Dem Leben Sinn geben
die Verquickung mit Machtfragen die Gefahr mit sich, dass einer die Ehrlichkeit des Anderen irgendwann zur Durchsetzung eigener Interessen missbraucht. Freunde aber können sich alles anvertrauen und müssen nichts voneinander befürchten; unverblümter als in einer Liebesbeziehung können sie einander die Wahrheit sagen, wie sie ihnen nach bestem Wissen und Gewissen erscheint. Es ist von unschätzbarem Wert, mit einem Menschen alles, auch Heikles und Intimes besprechen zu können, und manchmal genügt ein vielsagendes Schweigen – »sein Schweigen allein zeigte mir, wie selbstgerecht ich die Sache darstellte« (Max Frisch, Mon t auk , 1975, 36). Um der Wahrheit willen ist es möglich, sich auch mal nicht so gut zu verstehen und sich dennoch spüren zu lassen, dass dies die Freundschaft nicht bedroht. Insbesondere diejenigen, die im gesellschaftlichen und beruflichen Leben Führungsverantwortung zu tragen haben, sind auf solche Freunde angewiesen, die »das Gute in uns schätzen, ohne blind gegen unsre Schwächen zu sein«, und »uns die Wahrheit nicht verhehlen, uns aufmerksam auf unsre Mängel machen, ohne uns vorsätzlich zu beleidigen« ( sic! , Knigge, II, 6, 5).
7. Glück ist der Blick des Freundes von außen auf mich. Freimütig bringt er zur Sprache, wie er mich sieht, und dieser Blick prägt sich mir ein, sodass ich mich selbst wie von außen sehen kann. Ohne diesen Blick könnte ich versucht sein, im Kreis der inneren Wahrnehmungen und Überlegungen zu verharren. In längeren Abständen überblickt der Freund die größeren Intervalle in meinem Leben und kann mir sagen, wohin seiner Meinung nach »die Reise geht«. Er weitet meinen Horizont, wenn er zu eng wird, und steuert Gedanken und Aspekte bei, die ich nicht im Blick hatte. Mit seiner wohlwollenden, aber wachsamen Aufmerksamkeit hilft er mir, die Kernpunkte meines Selbst, somit meinen inneren Zusammenhang und den Sinn für mich selbst zu bewahren. Für die verlorene metaphysische Antwort auf die Frage nach dem Selbst (»Frage das Gesetze, / Das wird dir sagen, wer du bist«, Bass-Arie, Bach-Kantate 132) bietet die Freundschaft irdischen Ersatz: Frage deinen Freund, der wird dir sagen, wer du bist.
Daher ist die Freundschaft, die lange währt, so wertvoll. Auf mich allein gestellt, könnte ich die Werte und Ziele, auf die es mir ankommt, leicht wieder aus den Augen verlieren oder es versäumen, selbst gewählte Grundsätze in die Tat umzusetzen. Die Augen des Freundes auf mir ruhen zufühlen, ist jedoch Motivation genug für eine weitere Anstrengung. Wechselseitig halten wir das so und behalten dabei die existenzielle Ontologie im Blick: Worin besteht deine und meine gegenwärtige Wirklichkeit, wo sind unsere unausgeschöpften Möglichkeiten? Der Freund starrt nicht auf meinen Status, er sieht vielmehr mein Potenzial und ich seines. Wir machen einander auf das Verfehlen einer Wirklichkeit und das Vergessen einer Möglichkeit aufmerksam, um rechtzeitig gegensteuern zu können. Die langwierige Arbeit der Verwirklichung einer Möglichkeit fällt mit seelisch-moralischer Unterstützung des Anderen leichter. Und er tröstet mich darüber hinweg, dass nicht alles, was möglich ist, wirklich werden kann, sodass ich weniger in Versuchung bin, mir selbst, Anderen, dem Leben und der Welt einen Vorwurf daraus zu machen.
8. Glück ist die gesamte Fülle des Lebens , die die Freunde erfahren. Sie besteht aus den schönen Zeiten, die sie genießen, und den weniger schönen, in denen sie sich beistehen. Nicht nur die atemberaubenden Momente machen die Fülle des Lebens aus, sondern auch die anderen Zeiten, die die Freunde gemeinsam durchleben. »Die Kunst des Lebens besteht darin, möglichst viele wertvolle, schöne Momente zu sammeln« (Christoph Schwennicke, Das Glück am Haken , 2010, 20). Das ist die Vorstellung vieler und dennoch nur ein Teil der Kunst – der andere Teil besteht darin, auch schwierige Zeiten und Schwierigkeiten in der Beziehung zu bewältigen. Auch schwierige Zeiten sorgen für eine starke Erfahrung von Sinn , weil sich jetzt erst der Zusammenhalt bewährt.
Nur auf angenehme Weise erfüllt sein zu wollen, ist der Weg der Lustfreundschaft, die wahre Freundschaft hingegen umfasst auch Unangenehmes und Schmerzliches. Glück ist, zum Freund flüchten zu können, wenn etwas im Leben missglücktist, und sollte er selbst mit einem Problem ankommen, halte man sich nicht mit »moralischen Gemeinsprüchen« auf (Knigge, II, 6, 8). Nicht Perfektheit
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