Dem Leben Sinn geben
Berühmte Freundespaare haben davon ausgiebig Gebrauch gemacht (Rüdiger Safranski, Goethe und Schiller , 2009). Nur zum Teil handelt es sich dabei um das reale Gespräch im unmittelbaren Austausch, mittelbar mithilfe von Kommunikationsmedien wie Brief, Telefon, Internet. Das reale Gespräch ist unverzichtbar, denn es ermöglicht, sich wechselseitig auf dem Laufenden zu halten und die Erfahrungen und Veränderungen des jeweils Anderen mitzuvollziehen. Es dient der Nachführung der Beziehung, die für die Freundschaft so wichtig ist wie für die Liebe im engeren Sinne, auch wenn es keine große Eile damit hat: Mehr als die Liebenden leben die Freunde, die sich weniger oft sehen, in unterschiedlichen Welten, die aber nicht so rasch auseinanderdriften; selten steht von einem Moment zum anderen alles auf dem Spiel.
Zum anderen Teil ist der Austausch zwischen ihnen ein imaginäres Gespräch in Gedanken, sei es bei einem schweigsamen Zusammensein oder in einer Art von Telepathie beim Getrenntsein: Auch wenn ich nicht mit meinem Freund zusammen bin, höre ich seine Stimme in mir. Zwar kann ich nicht wissen, ob er in diesem Moment wirklich in Gedanken bei mir ist und mit mir spricht oder ob ich nur allzu gut weiß, was er sagen würde, wäre er hier. Entscheidend ist aber nicht die Tatsache, sondern die Vorstellung , dass er meine Gedanken kommentiert, sie bestätigt, ihnen widerspricht, andere hinzufügt,mich aufmerksam macht auf das, was ich übersehen habe. Der vorgestellte Austausch hat den Vorteil, weniger ermüdend und daher dauerhafter zu sein als der reale: Ohne Einbußen an Intensität können die Freunde im Denken ständig füreinander präsent sein, ohne dass dies nach außen hin erkennbar wäre. »Überhaupt haben feinere Seelen unter sich eine eigne geheime, andern unverständliche Sprache« ( sic! , Knigge, II, 6, 12).
5. Glück sind die gemeinsamen Deutungen , die im realen und imaginären Gespräch unternommen werden. Das Deuten (griechisch hermeneuein ) begründet eine gemeinsame Hermeneutik der Existenz , die sich auf alle Aspekte des Lebens bezieht. Traditionell scheint dies Frauen näherzuliegen, aber grundsätzlich können auch Männer mit den besten Freunden die tieferen Gespräche führen, in denen es darum geht, die kleinen und großen Lebensfragen, Geschehnisse, Begegnungen und Erfahrungen zu erörtern und zu interpretieren: Was ist geschehen? Was bedeutet das? Welche Erfahrungen sind wie einzuschätzen? Welche Zusammenhänge könnten darin verborgen sein? Welche Argumente sprechen für, welche gegen eine bestimmte Entscheidung? Was ist wirklich wichtig? Welchen Werten kommt welche Bedeutung im Leben zu und wie sind sie zu verwirklichen? Was ist schön, was bedeutet Glück? Was macht Sinn? Das Hin- und Herwenden von Deutungen und ihre immer neue Prüfung auf Plausibilität, auf Nachvollziehbarkeit, ist eine nicht endende Aufgabe der Lebensbewältigung, um aus Erfahrungen Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen. Mit Antworten, die wenigstens zeitweilig tragfähig sind, gelingt es besser, Sinn und Bedeutung ausfindig zu machen und die eigene Lebensführung daran zu orientieren, um sich im Leben und in der Welt zurechtzufinden.
Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Aristoteles inder Freundschaft eine gute »Übung in Vortrefflichkeit« ( askesis tes aretes , NE 1170 a 11) sah: Die Freunde verhelfen sich dazu, Dinge, Personen und Situationen so gut wie möglich einzuschätzen und bestmöglich mit ihnen umzugehen. Das bezieht sich auf sämtliche Lebensvollzüge und hat nicht unbedingt etwas mit der moralischen »Tugendhaftigkeit« zu tun, mit der die Arete traditionell übersetzt worden ist.
6. Glück ist die Freimütigkeit der Freunde im Umgang miteinander. In ihren realen und imaginären Gesprächen bemühen sie sich um ein »Alles-Sagen« ( parrhesia , NE 1124 b 29) und realisieren damit auch eine Parrhesiastik der Existenz . Jemanden als besten Freund, beste Freundin anzusehen, ist nicht immer daran gebunden, ihm oder ihr gefühlsmäßig am nächsten zu stehen, immer aber daran, offen und ehrlich miteinander umzugehen: Darin liegt für viele der Sinn wahrer Freundschaft . Mit Anderen mag der Umgang häufiger sein, mit dem wahren Freund aber ist er aufrichtiger, im Vertrauen darauf, dass die Beziehung nicht daran zerbricht, vielmehr ganz im Gegenteil davon bestärkt wird, denn wo sonst wäre so viel Ehrlichkeit auf dem weichen Boden von so viel Wohlwollen zu haben?
In der Liebe bringt
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