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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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einzufordern und Untreue zu sanktionieren, zuweilen verquickt mit der Machtfrage: »Wenn du jetzt nicht zu mir hältst, kannst du nicht mehr mein Freund sein!« Nicht nur ausgesprochen, sondern auch unausgesprochen schwebt diese Drohung im Raum. Soll ich für den Freund etwa sogar dann einstehen, wenn er bei seinen Schwierigkeiten mit Dritten im Unrecht sein sollte? Auch in anderen Situationen kann es schwerfallen, sich im Zweifelsfall zwischen der Beziehung zum Freund und anderen Beziehungen zu entscheiden. Wenn ich ihn meinerseits beiseiteschiebe, weil mir nun »etwas Anderes« wichtiger ist, kann dies seiner Vermutung Nahrung geben, es habe sich ohnehin nur um eine Lust- und Nutzenfreundschaft gehandelt. Aber was soll Priorität haben? Mit wem verbringe ich die zur Verfügung stehende Zeit? Lässt sie sich nicht problemlos aufteilen? Warum nicht? Was folgt daraus?
    Das Dilemma wird noch größer, wenn ein befreundetes Paar sich entzweit und jeder mich an seiner Seite wissen will. Und jetzt? Wo ist mein Platz? Mich herauszuhalten ist schwierig, denn mit einem so gleichgültigen Freund weiß keiner etwas anzufangen. Zu jedem zu halten ist schwierig, denn die Kombattanten wollen häufig auch auf dem Umweg über den gemeinsamen Freund nichts mehr miteinander zu tun haben. Egal, wie ich mich entscheide, der jeweils Andere wird es mir nicht verzeihen. Jede Ethik scheitert in dilemmatischen , unentscheidbaren Situationen, das gilt auch für die Ethik der Freundschaft. Vielleicht kann ich noch für eine Weile lavieren, in der Hoffnung, dass die Situation sich verändert. Kommt es dennoch zum Schwur, muss ich mich festlegen und die Konsequenzen tragen.
    10. Eher lösbar erscheint demgegenüber das Problem der virtuellen Freundschaft , das sich aus dem freudigen Auflisten und immer neuen Hinzufügen von »Freunden« in beliebiger Zahl in Internet-Netzwerken ergibt. Eine Polyphilie kannte schon Aristoteles (NE 1155 a 30), es geht also lediglich um ihre neue Gestalt. Einerseits schützt sie vor Einsamkeit, andererseits wird eine neue Einsamkeit online erfahrbar, denn viele dieser Freundschaften bleiben rein virtuell: Nie ist die ganze Person präsent, nie ist klar, ob der Andere nicht ein ganz Anderer ist (Sherry Turkle, Verloren unter 100 Freunden , 2011). Eine neue Verlegenheit entsteht bei virtuellen Freundschaftsanfragen, die weder bejaht noch verneint werden können.
    Aber einige Fragen kann jeder für sich selbst beantworten: Ist Freundschaft für mich mehr als der momentane Nutzen, mich nicht allein fühlen zu müssen, mehr als die momentane Lust, jederzeit mit allen in Verbindung treten zu können? Gebe ich in elektronischen Netzwerken nicht ohnehin allzu bereitwillig Privates preis, das nie mehr aus dem Netz verschwindet? Werden die geäußerten Gedanken und Gefühle nicht in Datenbanken gespeichert und für alle denkbaren Zwecke weiter verwertet? Wird die virtuelle Freundschaft nicht zu sehr dazumissbraucht, kommerzielle Produkte wirksamer bei potenziellen Kunden zu platzieren? Es ist Sache des Einzelnen, nicht sein ganzes Leben dem Netz anzuvertrauen. Mit der Begrenzung der Virtualität wird die Zeit frei, Freundschaften aller Art zwischendurch wieder auf analoge Weise zu pflegen, ohne digitale Dokumentation miteinander zu sprechen, ein wirkliches Gesicht vor sich zu sehen, sich bei einem realen Glas nahe zu sein und das Gefühl zu genießen, in diesen Momenten das Menschsein voll und ganz in sich zu spüren.
    Und wenn die Freundschaft endet? Dann muss sie nicht, wie die Liebe, mehr oder weniger dramatisch aufgekündigt werden. Weder sind abschließende Gespräche noch ärgerliche Kurzbotschaften erforderlich. Nach Möglichkeit sollten die ehemaligen Freunde »die Erinnerung an die Vertrautheit von einst bewahren«, schlug Aristoteles vor (NE 1165 b 33). In moderner Zeit war dies lange Zeit die Aufgabe der Ansichtskarte aus dem Urlaub, in digitalen Zeiten abgelöst von einer MMS ( Multimedia Messaging Service ). Max Frisch sandte seinem Freund zuletzt »noch ein Telegramm zu seinem fünfzigsten Geburtstag, von Rom aus« ( Montauk , 46).
    Die Freundschaft kann, wenn sie nicht mehr gepflegt wird, einfach »einschlafen«, ohne ganz verschwinden zu müssen – im Schlaf kann sie sich vielmehr erhalten und erholen. Über längere Zeiten hinweg kann sie ruhen und bei einem Wiedersehen umstandslos wiederbelebt und bruchlos fortgesetzt werden. Soll der Prozess der Auflösung aufgehalten werden, lässt sie sich ohne

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