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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Weiteres reaktivieren, wenn einer auf den Anderen zugeht, ihm deutlich und nachhaltig Interesse und Wohlwollen bekundet. Selbst wenn die Freunde sich lange Zeit nicht gesehen haben, ist sofort die alte Vertrautheit wieder da. Es fühlt sich an, als wäre keine Zeit vergangen, während die Liebenden schon nach einer kleinen Weile des Getrenntseins auch ohne Trennung erneut nach Vertrautheit suchen müssen: Ihre größere Nähe ist auf die Überschneidung ihrer Welten angewiesen, um die sie sich bei jeder Begegnung von Neuem bemühen müssen, da der vorherige Zustand offenkundig nicht lange konserviert werden kann. Sollte die Wiedergewinnung der Nähe in der Liebe misslingen, sind die Auswirkungen auf das Leben der Beteiligten deutlicher spürbar als bei einer Freundschaft. Ob es irgendwann gelingen kann, die Befangenheit in der Liebe mit der Unbefangenheit abzumildern, wie sie in einer Freundschaft üblich ist? Das ist eine offene Frage.
Kann es eine erotische Freundschaft geben?
    Freundschaft ist Liebe ohne Sex. Nicht durch intime körperliche, sondern intensive seelische und geistige Berührungen ist sie charakterisiert. Die Beziehung ändert sich, wenn sexuelle Aspekte ins Spiel kommen. Damit diese der Freundschaft zwischen Mann und Frau nicht im Wege stehen, wäre, so überlegte Friedrich Nietzsche, »eine kleine physische Antipathie« hilfreich ( Menschliches, Allzumenschliches I, 1878, Aphorismus 390). Ihm selbst war das leider nicht vergönnt, als es darauf ankam, und so wurde auch aus der erhofften Freundschaft mit Lou von Salomé nichts. Ist wirklich keine Freundschaft möglich, solange es sexuelle Versuchung gibt?
    Es käme auf Versuche zu einer erotischen Freundschaft an, von der Milan Kundera in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) spricht, um Beziehungen zu bezeichnen, die sein Protagonist Tomas nach missglückter Ehe eingeht. Sieberuhen auf einem »ungeschriebenen Vertrag der erotischen Freundschaft«, ermöglichen einerseits Nähe bis zur körperlichen Intimität, bewahren andererseits aber räumliche Distanz, denn die Beteiligten leben getrennt. Zeitlich müssen mindestens drei Wochen zwischen den Verabredungen liegen; werden die Abstände kleiner, sind nur noch drei Begegnungen erlaubt (»Dreierregel«, I, 5). Keiner erhebt Ansprüche auf alleinigen Umgang mit dem je Anderen, nur in einer »unsentimentalen Beziehung« können alle glücklich sein.
    Beziehungen der erotischen Freundschaft sind Versuche zu einer Art von Bindung, die sehr viel Freiraum gewährt. Die Erotik der Liebesbeziehung geht hier eine Liaison mit der Freiheit der Freundschaft ein, so die Theorie. Die Protagonisten ersetzen all die Einschränkungen der Freiheit, die bei einer Liebe im engeren Sinne unumgänglich zu sein scheinen, durch die Offenheit der Freundschaft, die auf jede Inbesitznahme des Anderen verzichten kann. Auf diese Weise entsteht eine lose Bindung , in der die Leichtigkeit der Erotik eine Chance hat. Die Einseitigkeit, die in der Liebe vorherrschen kann, wird durch die Wechselseitigkeit der Freundschaft ersetzt.
    Es kann sich um eine wahre Freundschaft handeln, denkbar ist jedoch auch ein Verhältnis, das auf der Wechselseitigkeit des Nutzens und der Lust beruht. In der Praxis, die Kundera in seinem Roman ebenfalls beschreibt, können die Vorsätze freilich rasch der Vergessenheit anheimfallen. Als Tomas Teresa kennenlernt, geht die im Roman entworfene »süße Leichtigkeit des Seins«, die mit der erotischen Freundschaft verwirklicht werden sollte, durch die Verfestigung der Beziehung wieder verloren. Das ist wohl kein bloßes Versehen: Die Leichtigkeit schwebender Möglichkeiten wird vielmehr schon dadurch, dass sie zu lange anhält, »unerträglich«. Menschensehnen sich dann von selbst wieder nach der Schwerkraft einer definierten Wirklichkeit, die wiederum von der eingeschränkten Freiheit in einer sentimentalen Liebe mühelos erzeugt wird. Im Roman sind es noch dazu tragische Ereignisse, die die unerträgliche Bedeutungslosigkeit in eine Bedeutungsschwere verkehren, die schließlich ebenso unerträglich ausfällt wie die Situation zuvor.
    Die Vision aber bleibt. Losgelöst von diesem Roman können verschiedene Varianten einer erotischen Freundschaft erkundet und erprobt werden, um deren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in Erfahrung zu bringen. Welche Variante realisiert wird, hängt von den Beteiligten selbst ab, die darüber unterschiedlicher Meinung sein können und sich oft

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