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Dem Leben Sinn geben

Dem Leben Sinn geben

Titel: Dem Leben Sinn geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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entzogen, um sie vielleicht einem Anderen zukommen zu lassen. Im politischen Raum verwandelten viele Norweger 2011 ihre Bitterkeit in ein Blumenmeer für die Opfer, um sich an dem Attentäter zu rächen, der auf der Insel Utøya 69 Menschen ermordet und den Tod weiterer acht Menschen mit einem Bombenanschlag in Oslo verursacht hatte.
    Eine bittere Steigerung ist die Erinnerung , die zur Rache wird, wenn Menschen ein Geschehen in ihr Inneres , in ihren Kern aufnehmen, sodass es von hier aus den Übeltäter verfolgen kann: Er soll wissen, dass nie in Vergessenheit geraten wird, was geschehen ist. Die bitterste Rache aber ist die Vergeltung , das wilde Umsichschlagen des Rächenden, »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, ohne jede Umsicht und Rücksicht, Vorsicht und Voraussicht, weder in Bezug auf den, dem die Rache gilt, noch auf den Rächenden selbst. Klug und kunstvoll ist das nicht, es kann allenfalls vorübergehend Genugtuung verschaffen. Zeitlebens müssen alle Beteiligten nicht nur mit dem Anlass zur Rache, sondern auch mit den Folgen leben. Wenn sie noch leben.
    Süß hingegen ist die Rache, die ich stillvergnügt genießen kann, wenn es mir mit einiger Übung gelingt, sie bewusst und überlegt einzusetzen, mit Blick für die Konsequenzen. Diese Rache ist eine Angelegenheit der Lebenskunst, sie begnügt sich mit der Markierung einer Grenze für den Anderen; ein Nadelstich der Bosheit reicht dafür völlig aus. Kein Zweifel, dass es dabei immer noch um Rache geht, um diejenige Seite im Selbst zufriedenzustellen, die Rachegelüste kennt. Ganz ohne Ressentiment auskommen zu wollen, ist ehrenwert, aber übermenschlich, vielleicht unmenschlich.
    Gleichwohl ist ein erwünschter Nebeneffekt der süßen Rache die Befreiung vom Rachegefühl , die selbst Nietzsche für erstrebenswert hielt, der sich sonst nicht als Fürsprecher irgendeiner Moral hervortat: »Reinigung von der Rache meine Moral« ( Nachgelassene Fragmente von 1883, KSA 10, 409). Wer bei sich selbst damit den Anfang macht, kann mit seinem Beispiel vielleicht Andere dazu anzuregen, auf ähnliche Weise vom Rachegefühl frei zu werden; in jedem Fall tut er oder sie sich selbstetwas Gutes: »Ich habe nicht deinetwegen verzichtet, sondern meinetwegen«, sagte Ameneh Bahrami, eine iranische Studentin, die 2011 vor Gericht auf den Vollzug eines Scharia-Urteils verzichtete, das ihr zugestand, dem Mann, der ihr mit Säure die Augen verätzte, dasselbe anzutun.
    Einer süßen, kalkulierten Rache stehen mehrere Möglichkeiten offen: Sie kann in einer Art von paradoxer Intervention , anders also, als es von ihr erwartet wird, darauf zielen, Gleiches nicht mit Gleichem, sondern mit Gegensätzlichem zu beantworten, beispielsweise eine Ungerechtigkeit mit Gerechtigkeit, eine Unaufmerksamkeit mit Aufmerksamkeit, eine Unfreundlichkeit mit Freundlichkeit, eine Engherzigkeit mit Großmütigkeit. Die süße Art der Rache zielt nicht so sehr auf Vergeltung und nicht im Geringsten auf Zerstörung. Sie kann als humanitäre Aktion durchgehen und bleibt dennoch Rache mit anderen Mitteln, da sie den, der es auf das Selbst abgesehen hat, seines Ziels beraubt und ihn mit schlechtem Gewissen zurücklässt. Schon antike Philosophen rühmten diese Variante: »Die beste Art, sich an jemandem zu rächen, ist die, nicht Böses mit Bösem zu vergelten« (Marc Aurel, An sich selbst , 6. Buch, 6, in der Übersetzung von Albert Wittstock).
    Und Rache ist süß, wenn sie im Spiel nach fairen Regeln geübt wird. Dann sind sogar ganze Vergeltungsketten nicht sonderlich problematisch: Endlos rächen Fußballvereine sich wechselseitig für frühere demütigende Niederlagen. Ein konzentrierter Süßstoff der Rache ist außerdem das Lachen , das von Herzen kommt und dem Anderen signalisiert, dass seine Attacken ins Leere laufen. Und eine äußerst wirksame Rache ist das Werk , an dem der Eine arbeitet und auf das der Andere nicht mehr zu antworten vermag, da er dazu selbst erst ein Werk zu erarbeiten hätte. Am allerwenigsten kann er darauf antworten,wenn das Werk keine Spur von Rache mehr aufweist. Auch eine wissenschaftliche Studie kann eine solche Rache sein, die am meisten Eindruck macht, wenn sie keinerlei bitteren Beigeschmack mehr enthält, also auch noch darauf verzichtet, aus Fußnoten Fußtrittnoten zu machen.
    Eine starke Möglichkeit der süßen Rache ist die stoische Haltung , die ein Mensch zu bewahren vermag: Mit ihr kann er Anfeindungen anbranden lassen und sich als Fels in der Brandung

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