Dem Tod auf der Spur
Abzug zu erreichen, um sich absichtlich zu erschießen, dann war es erst recht unmöglich, den Abzug zu erreichen und sich versehentlich zu erschießen.
Frage: Hatte der andere Schuss, der nicht den Jäger getroffen hat, etwas mit dem Unfall zu tun?
Antwort: Ja.
Jürgen Mertens hatte bei seiner Zeugenaussage von zwei Schüssen erzählt, die er nacheinander gehört hatte. Der erste Schuss war aus dem unteren Lauf (dem Büchsenlauf) der Waffe abgefeuert worden, der zweite Schuss, den er etwa eine Minute nach dem ersten gehört hatte, kam aus dem oberen, dem Flintenlauf, und tötete den Jäger.
Etwa 50 Meter vom Ansitzwagen des Jägers entfernt war den Kriminaltechnikern eine Unebenheit auf dem Grasboden aufgefallen. Ein Projektil hatte hier den sandigen, mit Gras bewachsenen Boden gestreift und lag einige Meter weiter entfernt unter einem Baum. Kaliber 5/57, genau die Patrone, die sich im unteren Lauf der Waffe befunden hatte.
Das deutete darauf hin, dass Otto Wächter in der Nacht auf etwas geschossen hatte – beispielsweise auf ein Wildschwein –, es aber verfehlt hatte.
Frage: Was hat er danach getan?
Im Ratespiel ist das eine verbotene Frage, denn sie lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. In unserem Fall führte diese Frage, die sich ein besonders hartnäckiger Kriminalist stellte, auf die entscheidende Spur – allerdings über eine weitere Zwischenfrage:
Frage: Was tut ein Jäger, der sich im Dunkeln nicht sicher ist, ob er das ins Visier genommene Wild vom Ansitzwagen aus getroffen hat? Antwort: Er steigt vom Wagen und sieht nach.
Aber er ist offenbar nicht weit gekommen, schließlich fand man den toten Jäger unmittelbar beim Ansitzwagen.
Frage: Und warum lag die Waffe noch im Ansitzwagen, direkt neben dem Sessel?
Sie dürfen gern weiterraten. Die Ermittler jedoch durften sich nicht aufs Raten verlegen. Stattdessen schritten sie noch einmal zur Tat, besser gesagt zum Tat- bzw. Leichenfundort, um der obigen Frage nachzugehen. Dort nahmen die Kriminalisten den Campingstuhl in dem Ansitzwagen genauer unter die Lupe. Und wurden für ihre Akribie belohnt.
Auf dem Stuhl war ein Sitzkissen mit auf der Oberseite gelegenen Kunststoffknöpfen befestigt. Einer der Knöpfe ragte etwas aus dem Kissen heraus. Damit gab es einen Ansatzpunkt für ein neues, wenn auch sehr unwahrscheinlich anmutendes Szenario:
Frage: Hatte sich vielleicht der Abzug der Waffe an genau dem Knopf verhakt?
Antwort: Ja.
Die Ermittler rekonstruierten die Situation, indem sie die Waffe noch einmal auf dem Stuhl ablegten. Von der Höhe des Einschusses her und auch von der Positiondes Abzugs und des Knopfs auf dem Stuhl erschien ein solches Szenario sehr wahrscheinlich.
Frage: Doch war der dünne Faden, an dem der Knopf auf dem Kissen des Stuhles hing, stark genug, um den Abzugswiderstand der Flinte zu überwinden und den Schuss auszulösen?
Antwort: Ja.
Bei der kriminaltechnischen Untersuchung kam heraus, dass man den Abzugswiderstand mit einer Kraft von 23 Newton überwinden muss, um einen Schuss aus dem Büchsenlauf der Waffe auszulösen. Bei dem Flintenlauf, aus dem der tödliche Schuss gekommen war, musste der Widerstand mit einer Kraft von 28 Newton überwunden werden. Welchen Widerstand konnte der Faden aushalten, bevor er riss? Die Techniker machten die Probe aufs Exempel. Resultat: 28 Newton und mehr.
Hier also nun die Lösung unseres rechtsmedizinischen Rätsel-Krimis:
Otto Wächter legt nach einem Fehlschuss aus dem Ansitzwagen das Gewehr auf dem Drehsessel ab, um vom Ansitzwagen zu steigen. Dabei kommt der Abzug der Waffe über dem lockeren Kissenknopf zum Liegen. Unten angekommen, packt Otto Wächter die ungesicherte Flinte am Lauf und zieht sie gegen alle Vorsicht zu sich heran. Der Abzug verhakt sich, der Jäger zieht im Jagdfieber noch fester an dem Lauf – und sorgt so dafür, dass der Faden des Knopfes den Abzugswiderstand überwindet und den tödlichen Schuss auslöst.
Dass im Moment des Abfeuerns das Gewehr obenauf dem Stuhl lag und der Jäger unten stand, erklärt den bei der Obduktion festgestellten, geringfügig abwärts verlaufenden Schusskanals in einem Winkel von fünf Grad: Aus 130 Zentimeter Höhe von der Sitzfläche des Stuhls aus drang das Geschoss in Höhe von 126 Zentimetern in die Brust des Jägers ein und trat auf einer Höhe von 121 Zentimetern am Rücken wieder aus dem Körper aus.
Als die Ermittler mir das Ergebnis ihrer akribischen Nachforschungen mitteilten, musste ich den
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