Dem Tod auf der Spur
Dieter Hemker unter die Lupe: Nachdem seine Frausich von ihm getrennt hatte, war ihr auch das alleinige Sorgerecht für die zwei Kinder zugesprochen worden. Seither hatte Hemker allein gelebt. Kurz vor seinem Tod hatte er dann auch noch seinen Job als Heizungsmonteur verloren. Zudem verriet ein Blick in die medizinischen Unterlagen seines Hausarztes, dass Hemker sich schon seit einigen Monaten wegen schwerer Depressionen in psychiatrischer Behandlung befunden hatte. Das alles deutete darauf hin, dass er im Kastenwagen Suizid begangen hatte. Aber Suizid durch Enthauptung?
Als die Spezialisten von der Spurensicherung auch die weitere Umgebung des Fahrzeugs in Augenschein nahmen, erhielten wir sowohl die Bestätigung für die vermutete Selbsttötung als auch die dazugehörige Erklärung. An einem hölzernen Weidezaun entdeckten die Beamten ein dünnes, 40 Meter langes Stahlseil, das mehrfach um eine der Holzplanken gewickelt und geknotet war. Am anderen Ende des Seils, das gut versteckt unter dem Schnee gelegen hatte, befand sich eine Schlinge von etwa 15 Zentimeter Durchmesser.
Das gefundene Stahlseil zusammen mit dem starken Suizidmotiv ließ mehr als vermuten, was sich dort abgespielt hatte, bevor die nichtsahnenden Streifenpolizisten ihren grausigen Fund machten: Dieter Hemker hatte das Stahlseil am Weidezaun befestigt, durch das Rückfenster seines Kastenwagens ins Wageninnere geführt und sich anschließend die Schlinge um den Hals gelegt. Dann raste er los. Durch die hohe Startgeschwindigkeit – wahrscheinlich trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch – und die Stabilität des Stahlseilswurde ihm schon nach wenigen Metern Fahrt der Kopf abgerissen. Dieser fiel nach hinten in den Fußraum vor der Rückbank. Während der Wagen weiterfuhr und schließlich im Straßengraben zum Stehen kam, glitt das Stahlseil mitsamt der Schlinge wieder aus dem Auto und blieb auf dem Seitenstreifen liegen, wo es dann von frisch gefallenem Schnee bedeckt wurde und deshalb den vor Ort eingesetzten Polizeibeamten zunächst nicht aufgefallen war.
Der spätere DNA-Abgleich bewies, dass die Vermutung den Tatsachen entsprach: Die Gewebereste, die an der Schlinge hafteten, stammten eindeutig von Dieter Hemker. Damit war der Fall also geklärt. Eigentlich.
Doch der Suizid durch Enthauptung war buchstäblich nur die halbe Wahrheit. Auf die andere Hälfte hatte uns schon die Obduktion gestoßen, die nämlich nicht nur die obenerwähnten Fragen aufwarf: Schon bei der obligatorischen äußeren Leichenschau stießen wir auf zwei bemerkenswerte Details: Der Tote wies fast keine Leichenflecken auf und hatte in beiden Armbeugen frische Nadeleinstichstellen. Solche Einstiche finden sich häufig bei Menschen, die noch lebten, als sie gefunden wurden, und weisen auf das Bemühen des Notarztes hin, das Leben des Menschen doch noch zu retten. Dies konnten wir in unserem Fall jedoch ausschließen.
Bei der eigentlichen Obduktion entdeckte ich erneut Ungewöhnliches: Sämtliche inneren Organe wiesen eine überdurchschnittliche Blutarmut auf, die sich allein durch die Dekapitation und die im Fahrzeuginneren vorhandene Blutmenge nicht erklären ließ.
Diese Blutarmut hatte dazu geführt, dass die Nieren des Mannes ihre rötliche Farbe verloren und ihre graugelbe »Eigenfarbe« angenommen hatten. Zusammen mit dem fast vollständigen Fehlen von Leichenflecken konnte das nur bedeuten, dass der Verstorbene einen Teil seines Blutes schon vor seiner Enthauptung verloren hatte.
Was war hier vor der Enthauptung passiert? Woher rührte dieser offensichtlich massive Blutverlust zu Lebzeiten des im Übrigen völlig organgesunden Mannes?
Die Antwort fanden die Ermittler der Kriminalpolizei in der Wohnung von Dieter Hemker, denn dort erwartete sie eine wahrhaft schaurige Anordnung von Gegenständen: Auf dem Küchentisch standen zwei Colaflaschen, beide gefüllt mit jeweils einem Liter einer dunkelroten Flüssigkeit, offenbar Blut. Daneben lagen zwei Kanülen und zwei mit eingedicktem und angetrocknetem Blut verstopfte dünne Plastikschläuche. Eine Probe der dunkelroten Flüssigkeit wurde sofort in unser DNA-Labor gebracht, um zweierlei zu klären: Handelte es sich tatsächlich um Blut, und wenn ja, stammte dieses Blut von Dieter Hemker? Es bestätigte sich beides.
Als ich von dem Fund in der Wohnung erfuhr, war mir klar, was die Einstiche in den beiden Armbeugen des Toten zu bedeuten hatten: Dieter Hemker, der seine Familie und seinen Job verloren hatte
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