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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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einzigartig, eben zu einem Individuum macht. Metaphern wie »der Kopf der Organisation« und »kopflos handeln« zeigen die Bedeutung dieses Körperteils als Schaltzentrale, von der aus alles Übrige gesteuert wird.
    So sind auch der Kopf ohne Körper sowie das Enthaupten an sich sehr alte und wirkungsvolle Motive in der menschlichen Kulturgeschichte. Bilder eines abgetrennten Kopfes zeigen den Charakter und das Besondere des abgebildeten Menschen zugleich mit dessen Auslöschung. Denn der Kopf ohne Körper ist gleichzeitig Abbild für den Tod des Individuums.
    Vielleicht kennen Sie eines der Gemälde, die Salome, Tochter des Herodes, mit dem Haupt Johannes’ des Täufers zeigen oder Judith bei der Enthauptung von Holofernes. Vom heiligen Minias, dem Namensgeber der Kirche San Miniato al Monte in Florenz, ist überliefert, dass der römische Kaiser Decius ihn im Jahre 250 n.Chr. köpfen ließ, da Minius sich weigerte, ihn als Gott anzuerkennen. Dennoch gelang es Minius derSage nach, mit seinem Kopf unter dem Arm den Hügel am Arno hinaufzulaufen, um dort den Grundstein für seine Kirche zu legen.
    Früher kannte jedes Kind die Geschichte von dem Piraten Klaus Störtebeker, der mit seinem Scharfrichter die berühmte Vereinbarung getroffen hatte, dass alle Mitglieder seiner Mannschaft, an denen er ohne Kopf noch vorbeilaufen konnte, begnadigt würden. Er wurde übrigens am selben Elbstrand geköpft, an dem auch jener Kopf gefunden wurde, den ich 600 Jahre später rechtsmedizinisch untersuchte.
    Enthauptungen sind auch ein beliebtes Feld für Phantasien und Spekulationen aller Art. So wurde ich tatsächlich schon einmal ernsthaft in einem Interview gefragt, wie lange ein Kopf ohne Körper überleben bzw. ob ein Körper ohne Kopf wie in der Störtebeker- Geschichte noch laufen kann.
    Französische Ärzte haben zur Zeit der Französischen Revolution dazu makabere Experimente durchgeführt. Sie hatten frisch abgeschlagene bzw. guillotinierte Köpfe – von denen es ja zu jener Zeit einige gab – Licht- und Tonreizen ausgesetzt und mögliche »Reaktionen« protokolliert. Allzu viel dürfte es dabei allerdings nicht zu protokollieren gegeben haben, denn die Wahrheit ist, dass ein Kopf ohne Körper nicht überleben kann.
    Dennoch fragen sich viele Menschen, ob abgetrennte Köpfe noch bewusste (sinnvolle, zielgerichtete) kognitive Leistungen erbringen können und ob das menschliche Gehirn nicht doch eine Zeitlang ohne Sauerstoffzufuhr funktionieren kann. Auch die Frage, ob einKörper ohne Kopf noch irgendwelche motorischen Fertigkeiten verrichten kann (z.B. umherlaufen, wie es der heilige Minias und Störtebeker angeblich noch taten), wird immer mal wieder, insbesondere von Physiologen, diskutiert.
    Ein durchaus berechtigter Grund für die Annahme, dass der Körper ohne Kopf noch zumindest einen Moment lang motorische Funktionen erfüllen kann, dürfte der Umstand sein, dass sich bei einem Großteil von Enthaupteten aspiriertes Blut noch tief in den Atemwegen findet. Dies ist theoretisch eigentlich unmöglich, da durch die Trennung der Verbindung zwischen Kopf und Körper das Rückenmark und somit die Kommunikation zwischen Atemzentrum im Gehirn und übrigem peripherem Nervensystem unterbrochen wird. Damit sind auch die Nervenstränge unterbrochen, die für das Zwerchfell und die Atemhilfsmuskulatur verantwortlich sind und den reibungslosen Ablauf der Atemtätigkeit sicherstellen. Somit müsste theoretisch jede Atemtätigkeit bei einer Abtrennung des Kopfes schlagartig aussetzen. Dennoch finden wir bei Obduktionen Enthaupteter (z.B. nachdem sie von einem Zug überfahren wurden) fast immer Blut aus den durchtrennten Halsgefäßen in den Atemwegen bis in die kleinen Lungenbläschen hinein – was eine funktionierende Atemtätigkeit voraussetzt.
    Pathophysiologisch kann dieser Befund nur so erklärt werden, dass die Atmung noch für ein paar Sekunden (vielleicht auch nur Millisekunden), auch ohne Koordination durch das Gehirn, allein über das Rückenmark gesteuert wird und auf diese Weise, wenn auch nur sehrkurze Zeit eine (Rest-)Atemfunktion erhalten ist und Blut aspiriert werden kann. Theoretisch reichen ein oder zwei tiefe Atemzüge, um die Bronchien und Lungenbläschen mit dem Blut zu füllen, das aus den durchtrennten Halsschlagadern und Venen in die Luftröhre gelangt ist.
    Es muss also niemand befürchten, auf der Straße einem kopflosen Passanten zu begegnen. Und zum Glück begegnet auch mir als Rechtsmediziner

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