Dem Winde versprochen
hinterlassen. Und ich, die Kobra, die jede Fährte aufnehmen kann, weiß nicht, wo ich suchen soll. Er ist aalglatt, geschickt, brillant. Wir haben es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun, und das verstärkt die Erregung noch. Wir haben nur ein halb verbranntes, mit Lack versiegeltes Papier als Beweis für die Existenz des Schwarzen Skorpions. Ich habe es Desirée gegeben, aber sie hat nichts gespürt. Die Energie, die ihr die Gegenstände normalerweise übermitteln, ist in diesem Fall ausgeblieben. Aber die reinigende Kraft des Feuers ist ja bekannt.
Ich beginne, ihn zu respektieren. Ich vermute, er hat ein ganzes Heer von Spionen zu seiner Verfügung, die er wie Schachfiguren über die Karte von Europa schiebt. Wir haben gehört, dass seine Abenteuer ihn bis zum Hof von Zar Alexander führten, und es geht sogar das Gerücht um, dass er als Feldmarschall verkleidet am Staatsstreich vom 18 . Brumaire teilgenommen hat.
Im Unterschied zu anderen Spionen wie der Roten Bibernelle oder der Blauen Rose gibt es keine Nachrichten über seine Heldentaten in den englischen Zeitungen. Das Volk kennt ihn nicht, niemand weiß, wem er es zu verdanken hat, dass England nicht von den napoleonischen Heeren überfallen wurde oder dass Georg III . noch die Geschicke von Großbritannien lenkt und seine Kehle noch nicht Bekanntschaft mit einer Stilettklinge gemacht hat. Nur in den Vorstädten
von Paris und bei den geheimen Treffen von Verschwörern, die seinen Namen mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung aussprechen, ist er eine Legende.
Dass er nicht eitel ist und nach Anerkennung giert, macht unsere Aufgabe umso vertrackter. Ich frage mich, was ihn antreibt. Niemand riskiert ohne eine handfeste Absicht Kopf und Kragen. Ich denke dabei nicht an Geld. Ich halte ihn für zu exzentrisch, um nur den finanziellen Vorteil im Auge zu haben; das hat er nicht nötig. Ich wage zu behaupten, dass er ein reicher Mann ist. Ist es überhaupt ein Mann? Warum nicht eine Frau? Gibt es eine Frau von diesem Format, die so klug und listig ist? Da fallen mir Madame de Staël und Julie Récamier ein. Ich kenne sie. Gebildet, verführerisch, vornehm. Wo sie sich wohl gerade aufhalten? Soweit ich weiß, ist Madame de Staël ins Exil geschickt worden und reist jetzt in der Begleitung von Schlegel und Sismondi durch Italien. Und Madame Récamier? Napoleon duldet sie immer noch in Paris trotz ihrer offenkundigen Neigungen für die »ancienne noblesse«. Wie gehabt ist ihr Salon das Zentrum der Literatur und Philosophie Europas. Wäre eine dieser Frauen imstande, Kopfputz, Kleider und Juwelen abzulegen und sich in den Schwarzen Skorpion zu verwandeln? Vorbilder gibt es genug.
Die Stippvisite im »Paille et Foin« in Calais war nicht ganz vergebens. Das dicke Gästeverzeichnis hat etwas Licht in die Sache gebracht. Wir haben drei der Namen von Fouchés Liste gefunden: Lord Ridley, Sir Victor Pensomby und Simon Miles. Die können wir streichen. Der Schwarze Skorpion würde nie unter seinem richtigen Namen absteigen.
Nicht ich, sondern Desirée mit ihrer endlosen Geduld und ihrem suchenden Finger hat die Ähnlichkeit von bestimmten für das bloße Auge kaum zu erkennenden Zügen bei zehn Unterschriften zwischen 1803 und 1804 bemerkt. »Was spürst du?«, fragte ich und konnte meine Ungeduld nicht verbergen. Desirée erwiderte, die Fingerspitze auf einer Unterschrift: »Ein einziger Wirrwarr. Zu viele Energien fließen auf diesem Papier zusammen«. Sie starrte auf das Blatt. »Er ist
reserviert, ruhig, aber das ist nur Fassade. Innerlich glüht er. Leidenschaft, reine Leidenschaft.«
Bei dem Wort Leidenschaft war ich plötzlich erregt. Ich atmete tief ein, bis sich meine Brust blähte.
Ohne Zweifel, das war der Schwarze Skorpion.
Die Nachricht löste keinerlei Reaktion aus. Fouché blickte ungerührt auf den riesigen Schreibtisch.
»Monsieur«, hob der Agent wieder an. »Le Libertin glaubt, er habe die echte Madame Royale gefunden.« Er meinte die Tochter des guillotinierten Ludwig XVI .
Unter den Regierungsmitgliedern, sogar unter den Royalisten – den emigrierten und denen, die inkognito in Frankreich lebten –, ging das Gerücht um, die junge Frau, die behauptete, eine direkte Nachfahrin des großen Sonnenkönigs zu sein, sei eine Schwindlerin. Vor allem diejenigen, die mit den Bourbonen in den Jahren vor der Revolution verkehrt hatten, weigerten sich zu glauben, dass dieses plumpe Geschöpf die Tochter der feinen Marie Antoinette sein
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