Dem Winde versprochen
Hand hatte ihre Lippen so unerwartet zart berührt. Pablos Küsse und Zärtlichkeiten
hatten bei ihr nie eine solche Wirkung gehabt. Wenn er sie küsste, hatte sie nie das Gefühl für Raum und Zeit verloren. Doch in der letzten Nacht hatten die Welt und ihr Herz, wenn auch nur für einen kurzen Moment, stillgestanden.
»Dieser Engländer!«, murmelte sie. Sie hatte sich geschworen, nie mehr einen Mann an sich heranzulassen und die Spuren ihrer Schmach zu entblößen. Noch hatte sie genug Stolz, standhaft zu sein.
Schon von weitem sah sie das ockerfarbene Haus mit dem rotgedeckten Dach, und ein Gefühl von Frieden überkam sie – als würde sie nach Hause zurückkehren. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und trieb Fuoco an. Das Haus von Madame Odile befand sich auf dem Weg nach Los Olivos, fern der Stadt und der abfälligen Blicke der anständigen Leute. Es war das feinste Bordell von Buenos Aires. Die Mädchen brüsteten sich damit, dass sie mit mindestens zwei Sprachen aufwarten konnten und in Musik, Malerei und Literatur bewandert waren. In den Geheimnissen der Liebeskunst kannten sie sich aus wie die berühmtesten Hetären, und dabei waren sie so gesund und rein wie Nonnen eines Klausurordens.
Melody sprang vom Pferd und ging durch die Hintertür hinein. Sie achtete stets darauf, dass sie keinem Freier über den Weg lief, der im Bordell genächtigt hatte. Sie wurde von der Köchin, der schwarzen Cleofé, empfangen, die sie an sich drückte und küsste und alle anderen herbeirief. Als Erste kam Miora angelaufen, die Näharbeit noch in der Hand. Sie warf sie auf den Tisch und umarmte Melody. Seit Wochen war sie nicht mehr vorbeigekommen.
»Das muss Gedankenübertragung gewesen sein«, sagte Ana Rita, der Liebling eines hohen Beamten des Rathauses. »Gerade gestern hat die Madame gesagt, sie müsse unbedingt mit dir sprechen. Anscheinend hat sie deine Sternenkonstellation ausgewertet.
Ich verabschiede mich, meine Liebe. Ich gehe schlafen. Es war viel los heute Nacht.«
»Wie geht es dem kleinen Jimmy?«, fragte Jimena, für Melody die Hübscheste von allen.
»Die üblichen Beschwerden.«
»Du siehst verführerisch aus in den Hosen und den Männerstiefeln«, sagte Apolonia und legte die Hände auf Melodys Taille.
»Lass sie«, schritt Argelia ein. »Sie mag nur Männer.«
»Aber nein, ich hasse die Männer!«
Als sie Madame Odile in der Tür erblickte, flüchtete sie sich in den Schutz ihrer üppigen Brüste, legte den Kopf auf ihre Schulter und fing an zu weinen. Diese französische Prostituierte, die von sich behauptete, eine der berühmtesten Kurtisanen von Versailles gewesen zu sein, war für Melody wie eine Mutter.
»Was ist denn, mein Goldstück?«, fragte sie besorgt und schickte die anderen mit einer Handbewegung hinaus. »Komm her, mein Schatz, setzen wir uns. Nun erzähl schon.« Sie wischte ihr mit einer Hand die Tränen ab.
»Nein, Madame. Sie sind doch bestimmt erschöpft, wenn Sie die ganze Nacht gearbeitet haben.«
»Nein. Ich habe Lila das Geschäft übergeben und mich früh zurückgezogen. Ich bin gerade aufgestanden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich dich sehen wollte. Ich wollte schon Emilio mit einer Nachricht nach El Retiro schicken, damit du kommst.«
»Gibt es ein Problem mit Miora?« »Oh, nein. Das Mädchen ist ein Lämmchen. Sie näht göttlich. Wir haben nie schönere Kleider gehabt.«
»Ich freue mich, dass ihre Anwesenheit Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet hat. Es war so großzügig von Ihnen, sie aufzunehmen. Ich hätte nicht gewusst, wo ich sie hätte verstecken sollen.«
»Wo, wenn nicht hier? Habe ich dich vielleicht abgewiesen,
als du mit Francisca kamst?« Melody schüttelte den Kopf. »Gut, dann weißt du, dass dir meine Tür immer offen steht.«
»Ja.«
Melody küsste die rundlichen Hände mit den lackierten Fingernägeln.
»Und nun heraus mit der Sprache: Warum die Tränen?«
Ein vorwurfsvoller Blick von Madame Odile brachte sie dazu, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie erzählte von den Begegnungen mit Blackraven, von seinen Übergriffen.
»Ich bin fast gestorben vor Angst. Als er mich heute Nacht angefasst hat, dachte ich, mir stünde noch einmal diese Qual bevor. Wie soll ich in dieses Haus zurückkehren und ihm gegenübertreten? Ich habe Angst vor ihm. Er ist ein mieser Engländer!«
»Und bestimmt ein widerlicher alter Sack mit einer Hakennase und Mundgeruch.«
»Oh, nein! Ganz im Gegenteil. Er sieht sehr
Weitere Kostenlose Bücher