Demokratie! - wofür wir kämpfen
Bewegungen in ihre Herrschaftsstrukturen ein. Diese Beziehung basierte auf der Tatsache (oder Annahme), dass die Partei, die Gewerkschaft, die sozialen Bewegungen und die Regierung alle nach derselben Ideologie handelten, dieselbe Strategie und Taktik verfolgten und zum Teil sogar mit demselben Personal operierten. Der Slogan »im Kampf und in der Regierung«, den sozialistische Parteien ausgaben, sollte zeigen, dass unter dem Dach der Partei beides zusammenging.
Doch die sozialistische Tradition, in der sich die Partei beziehungsweise der Staat die sozialen Bewegungen einverleibte, gehört der Vergangenheit an. In Lateinamerika ließ sich in den letzten beiden Jahrzehnten vielmehr beobachten, dass soziale Bewegungen in ihrer Organisation, Ideologie und Zielsetzung bewusst unabhängig bleiben und sich dieser Eingliederung widersetzen. Gelegentlich kämpfen die Bewegungen gemeinsam mit den Regierungen gegen nationale Oligarchien, internationale Konzerne oder rassistische Eliten, doch selbst dann behalten sie ihre Autonomie bei. Die Identität dieser Bewegungen erwächst aus spezifischen regionalen Gegebenheiten zum Beispiel der indigenen Gemeinschaften; der Landarbeiter, die gegen Großgrundbesitzer kämpfen; der Arbeitslosen, die ein Mindesteinkommen fordern; oder der Arbeiter, die eine Selbstverwaltung der Produktion verlangen.Gleichzeitig unterhalten die Bewegungen kooperative oder antagonistische Beziehungen (oder beides) zur Regierung, um in Fragen der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Verwaltung oder der Verfassung weiter unabhängig handeln zu können.
Durch diese autonome Beziehung kann die Leitfunktion der Regierung erheblich verändert und abgeschwächt werden. Die Regierung kann sich beispielsweise gezwungen sehen, ihre Aktivitäten der demokratischen Beteiligung zu öffnen; kontroverse Fragen können zu Orten pluraler und offener Entscheidungsfindung werden; und der Staat kann sich in ein offenes Labor verwandeln, in dem zahlreiche Akteure Regeln und Normen aufstellen. Das Interessanteste ist, dass der politische Zusammenhalt der Regierung trotz der Vielfalt der Interaktionen und Konflikte erhalten bleibt. Viele Aspekte der »Institutionalisierung des common « werden hier erkennbar: die zerstörerische Kraft, die sich gegen alte koloniale und bürgerliche Verfassungen richtet; die ethische und programmatische Orientierung auf eine neue Verfassung; die Langsamkeit und Autonomie der politischen Willensbildung; das Beharren auf der Transparenz von Institutionen und Kommunikation; der Ausdruck impliziter Gegenkräfte, die dem Verfassungsprozess selbst angehören und im Notfall bereits gegen Gefahren zum Einsatz gebracht werden können; der Schutz der Minderheiten; und der demokratische Entscheidungsprozess, der alle Aspekte durchdringt.
Diese plurale Form der Politik mit ihrer offenen Beziehung zwischen sozialen Bewegungen und Regierungen sollte auf keinen Fall mit einer Spielart des Populismus verwechselt werden. Populistische Regierungen greifen verschiedene Forderungen von sozialen Bewegungen auf und verquirlen sie zu einer undurchsichtigen und potenziell demagogischen Mischung, ohnedabei etwas von ihrer Souveränität aufzugeben. Selbst wenn sich soziale Bewegungen unter populistischen Regimes eine gewisse Eigenständigkeit bewahren können, was durchaus vorkommt, werden sie dieser Hegemonialmacht untergeordnet. Diese Art der Vorherrschaft ist eine wesentliche Eigenschaft populistischer Regierungen. Wenn soziale Bewegungen jedoch ihre Autonomie verteidigen und gegen die Regierung aktiv werden, nehmen sie dieser populistischen Hegemonie die Grundlage.
Diese mehr oder weniger unabhängige Beziehung, die sich viele soziale Bewegungen von den progressiven Regierungen Lateinamerikas erhalten haben, dient uns als »Verfassungsbeispiel«. Es handelt sich dabei keineswegs um ein Ausnahmephänomen, dessen Bedeutung auf Lateinamerika beschränkt bleibt; wir sehen es vielmehr als Vorbild für andere Länder und Regionen. Es ist kaum ein Weg zu demokratischer Beteiligung und einer Verfassung des Gemeinsamen denkbar, der diese offene Dynamik der Neukonstitution nicht durchläuft. Eine offene Beziehung zwischen sozialen Bewegungen und Regierungen, eine plurale Regierungsform mit zahlreichen Zugängen und eine fortwährende Neuformulierung der Regeln für unser sich ständig veränderndes Zusammenleben – das sind nur einige der Elemente einer partizipativen Demokratie des Gemeinsamen.
Eine Agenda für eine neue
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