Demokratie! - wofür wir kämpfen
ermöglicht und fördert. Seit dem 18. Jahrhundert haben gesetzgebendeVersammlungen immer wieder erfolgreich solche Verfassungsexperimente angestoßen. Für kurze Zeit wurde die Politik dann auf den Boden der gesellschaftlichen Realität geholt und nach den Bedürfnissen und Wünschen der Gesellschaft neu gestaltet. Auch heute haben solche Verfassungsversammlungen eine wichtige Rolle dabei gespielt, eine Vielfalt sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Kräfte zu vereinen und ihnen eine Stimme zu geben – ein Beispiel sind die bereits erwähnten progressiven Regierungen Lateinamerikas. Die Legislative muss die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen und Kräfte verkörpern und so der Pluralität der Politik Gestalt verleihen.
Daher muss die Legislative föderal sein. Unter Föderalismus verstehen wir jedoch kein System, in dem eine Zentralmacht in kleine politische Untereinheiten wie Bundesstaaten oder Bezirke untergliedert ist. Wir verstehen den Föderalismus viel grundlegender als offene Beziehungen zwischen unterschiedlichen politischen Kräften aus der gesamten Gesellschaft, die keiner abstrakten Zentralmacht unterstehen. Der Föderalismus, wie wir ihn verstehen, ist nicht hierarchisch organisiert, sondern horizontal, und fördert die Pluralität und die Prozessorientierung der Politik.
Wäre es möglich, einen solchen »post-staatlichen« Föderalismus zur Grundlage einer offenen und dezentralisierten Legislative zu machen? Dies könnte der Fall sein, wenn die Legislative die autonome Zeitgestaltung der sozialen Bewegungen übernimmt und ihre föderativen Strukturen an deren dezentralisierte Räume anpasst. So komplex das klingen mag, so produktiv wäre es: Die Legislative wird zu einem Raum, in dem die Netzwerke sich in wechselnden Konstellationen zusammenfinden.
Die Versammlungen, die in den Protestcamps und auf den besetzten Plätzen des Jahres 2011 stattfanden, teilten die Macht auf diese föderale Weise. Jede Versammlung funktionierte nach eigenen Regeln und entwickelte eigene Ausdrucksformen und Entscheidungsverfahren. In einigen Fällen wurde Zustimmung mit einfachen Gesten oder Twitterbotschaften zum Ausdruck gebracht. Allen Versammlungen gemeinsam ist die Absicht, den tief verwurzelten Hang zur Zentralisierung der Macht auf eine kleine Führungsclique zu durchbrechen und stattdessen Möglichkeiten zu suchen, um alle Anwesenden an den Diskussionen und Entscheidungen teilhaben zu lassen. Die sozialen Bewegungen sehen in der Versammlung eine Möglichkeit, eine demokratische Legislative mit Hunderten oder Tausenden Teilnehmern zu schaffen. In der kurzen Zeit ihres Bestehens haben die Versammlungen zwar nicht immer alle Erwartungen an eine gleichberechtigte und demokratische Beteiligung aller erfüllt, doch sie bleiben ein wichtiges Vorbild in der Diskussion um einen möglichen Föderalismus.
Das wirft allerdings sofort die Frage des Maßstabs auf: Wie lässt sich das Modell vom Platz auf die gesamte Gesellschaft übertragen? Nach Ansicht von Skeptikern zeigt das Beispiel des antiken Griechenland, dass direkte Demokratie nur in kleinen Gesellschaften möglich ist. Doch in der modernen Geschichte wurde immer wieder der Versuch unternommen, die Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen auf große Teile der Gesellschaft auszuweiten; auch diese Experimente waren zwar nur bedingt erfolgreich, aber sie bieten Anregungen für neue Strategien.
Verschiedene sozialistische Initiativen des frühen 20. Jahrhunderts übergaben beispielsweise die Macht an die Arbeiterund entwickelten Verfahren, mit deren Hilfe diese ihre Entscheidungen selbst treffen konnten. Arbeiterräte waren eine der zentralen Forderungen aller sozialdemokratischen Richtungen, die im Gegensatz zu den autoritären Strömungen des Sozialismus eine echte Demokratie anstrebten. Spätestens seit der Pariser Kommune galten Räte in ihren verschiedenen Spielarten, von den deutschen Arbeiter- und Soldatenräten bis zum russischen Sowjet, als Basis einer föderalen Legislative. Über das imperative Mandat waren die Räte keine Vertreter der Arbeiter, sondern ein Instrument, über das diese direkt an der Entscheidungsfindung teilnahmen. In den meisten Fällen waren die Räte jedoch nur für kurze Zeit verfassungsgebend aktiv. In einigen Fällen, zum Beispiel der Weimarer Verfassung, wurden sie neutralisiert und zu Organen der betrieblichen Mitbestimmung degradiert, in anderen wurden sie fälschlicherweise zur Grundlage einer Diktatur des
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