Demokratie! - wofür wir kämpfen
überfordert. Lässt sich das System noch erneuern, und wenn ja wie? Ist es möglich, neue Formen der Volksvertretung zu finden und Räume der gesellschaftlichen Beteiligung einzurichten, die einen Verfassungsprozess von unten tragen könnten? Die traditionelle Linke weiß keine Antwort auf diese Fragen. Debatten um eine Reform des Wahlsystems verlaufen im Sande. Vor allem in Europa wirken Diskussionen um das Wahlrecht ironisch bis zynisch. Die Parteien der Linken sind völlig außerstande, sich mit der Herrschaft des Geldes in der Parteienpolitik auseinanderzusetzen, sei es über direkte Parteispenden oder über die Medien, die zunehmend zum Sprachrohr der Reichen und Mächtigen werden. Im Ringen um die Brosamen vom Tisch der Reichen tun die Parteien nicht einmal mehr so, als wollten sie die Gesellschaft repräsentieren. Und so wird Korruption gerade für die Linke oft der einzige Weg zur Macht.
Verschiedentlich wurde die Judikative mobilisiert, um die Verfassung wieder ins Gleichgewicht zu bringen oder Reformen einzuleiten. In den Vereinigten Staaten hatten diese Versuche gelegentlich sogar Erfolg: In den 1930er und 1960er Jahren stießder Oberste Gerichtshof mit seinen Urteilen Sozialreformen an und ermöglichte fortschrittliche und antirassistische Verfassungsreformen. In beiden Fällen handelte es sich jedoch um außergewöhnliche Umstände, in denen Wirtschaftskrisen und gesellschaftliche Konflikte die soziale Ordnung gefährdeten. Heute ist die Situation eine ganz andere, die Justiz ist zu ihrer konservativen Haltung zurückgekehrt. Von dem Urteil, mit dem das Oberste Gericht im Jahr 2000 die Wahlen entschied, wollen wir gar nicht sprechen; es reicht, auf das Urteil aus dem Jahr 2010 hinzuweisen, mit dem die Richter die Obergrenze für Wahlkampfspenden durch Unternehmen aufhoben, weil die Begrenzung in Widerspruch zum Recht auf freie Meinungsäußerung stehe. Auch in Europa wurde verschiedentlich versucht, die Gerichte zu Motoren von Verfassungsreformen zu machen – es handelt sich um Bemühungen, die alte jakobinische Utopie wiederzubeleben, denen selten Erfolg beschieden ist und die bestenfalls ambivalent zu sehen sind. Vor allem in Italien führt dieser Versuch zu einer Verzerrung der verfassungsmäßigen Rolle der Judikative; die Richter urteilen meist konservativ und machen sich zu Vollzugsgehilfen der Politik. Die Katastrophen sind vorprogrammiert.
In dieser Situation sind die Linken zu Jammerparteien verkommen. Sie beklagen die Zerstörung des Sozialstaats, die militärischen Abenteuer, die Zerstörung der Arbeitsplätze durch die Unternehmen, die überwältigende Macht der Banken und die Gier ihrer Manager. Schließlich beklagen sie Korruption ihrer eigenen Abgeordneten und ihre schwindende parlamentarische Legitimierung. Die einzige Position, die sie heute noch aggressiv vertreten, ist der Schutz der Verfassung: Leidenschaftlich treten sie für die Werte einer imaginären Vergangenheit ein – in Europazum Beispiel für eine reingewaschene antifaschistische Tradition, in den Vereinigten Staaten für eine nicht weniger schöngefärbte Tradition der Bürgerrechte – und sie mobilisieren diese Werte, um am Ende ihre Kompromisse mit den herrschenden Finanzmächten zu schließen. Sie leiden unter einem »Extremismus der Mitte«, der oft nichts anderes ist als eine nostalgische Verklärung der Vergangenheit.
Das Problem ist jedoch nicht nur, dass die Linke heute nicht in der Lage ist, eine Verfassungsdebatte anzustoßen. Die liberalen Verfassungen sind schlicht nicht mehr reformierbar. Es ist ein neuer konstituierender Prozess nötig, der die verfassungsmäßige Ordnung und die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellt. Den Ausgangspunkt einer solchen Reform sehen wir in den Grundsätzen und Wahrheiten, wie sie die sozialen Bewegungen hervorbringen. Wir können eine solche Verfassung zwar nicht einmal in groben Zügen skizzieren, aber auf Grundlage des bisher Gesagten können wir immerhin einige zentrale Eigenschaften erkennen. Für diesen ersten Versuch wollen wir bei den drei traditionellen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative bleiben und uns ansehen, wie diese durch die neuen Verfassungsgrundsätze verändert werden könnten.
Legislative
In einem verfassungsgebenden Prozess kann die Legislative keine Volksvertretung im herkömmlichen Sinne sein. Sie muss vielmehr ein Organ sein, das die Teilnahme aller an der Gestaltung der Gesellschaft und der politischen Entscheidungsfindung
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