Demonica: Versuchung der Nacht (German Edition)
Shade, sah aber schlimmer aus. Von seinem wild zerzausten Haar, das deutlich zeigte, wie oft er mit beiden Händen hindurchgefahren war, bis hin zu den dunklen Ringen unter den Augen und den zerknitterten Klamotten war er ein Bild des Grauens. »Und du?«, fragte er Idess. »Was ist mit dir?«
Es hatte keinen Sinn zu lügen. Lore kannte die Wahrheit, und vielleicht könnte sie ja ein paar Punkte bei den beiden gutmachen und etwas Hilfe von ihnen bekommen. Sich ihr Vertrauen verdienen – vorausgesetzt, Sin war zu so was überhaupt fähig.
»Ich muss ihn beschützen.« Sie sah Eidolon direkt in die Augen. »Er ist Primori, genau wie Kynan.«
»Ich kapier diese Primorisache einfach nicht«, sagte Sin, »aber das ist mir jetzt auch schnuppe. Ich muss ihn sehen.« Sie versuchte, sich an Eidolon vorbeizuschmuggeln, aber der hielt sie am Arm fest. Idess fragte sich, ob Sins Seminus-Kraft genauso tötete wie Lores, von der sie durch die Krankenschwester erfahren hatte.
»Kommt nicht infrage. Er erholt sich gerade und braucht Ruhe.«
»Fick dich.« Sin riss sich von ihm los. »Ich werd ihn auf jeden Fall sehen.«
»Sin.« Eidolons Stimme dröhnte in dem kleinen Zimmer wie ein Donnerschlag. »Das darfst du nicht.«
Idess’ Herz setzte aus. »Hier geht’s nicht um Erholung und Ruhe, stimmt’s?«
»Wovon redet sie da?«, fragte Sin.
»Sie werden ihn hier behalten«, sagte Idess. Sie sprach zu Sin, ohne jedoch den Blick von Eidolon abzuwenden. »Gefesselt. Und du darfst ihn nicht sehen, weil er fürchtet, du würdest ihn freilassen. Ist das so richtig, Doktor?«
Sin nahm unverzüglich Kampfstellung ein, die Fäuste geballt, den Körper aggressiv vorgebeugt. »Du Mistkerl.«
»Ich habe keine andere Wahl, Sin.« Eidolon rieb sich mit einer Hand die Augen; seine Finger drückten so fest zu, dass Idess erwartete, jeden Moment Blut zu sehen. »Wir werden uns irgendetwas einfallen lassen. Gib mir nur einen Tag, damit ich mit ihm reden kann. Denk mal drüber nach. Wir werden eine Lösung finden, mit der wir alle leben können.«
Idess erhob sich. »Wir geben ihm vierundzwanzig Stunden.« Sie drückte Sins Schultern, in der Hoffnung, sie werde verstehen, was sie ihr damit sagen wollte. Tu so, als ob du darauf eingehst.
»Fein«, knurrte Sin. »Aber wenn der Tag vorbei ist, solltest du ihn besser freilassen.« Sie entzog sich Idess, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, sodass Idess allein mit Eidolon zurückblieb, der auf die Tür starrte.
»Das ist ein verdammter Albtraum«, murmelte er.
»Du hast das Gefühl, du hättest deine Brüder verraten.«
Er fuhr zu ihr herum. »Ich habe niemanden verraten.«
»Das sieht Shade aber anders.« Wie aus dem Nichts tauchte Ramis Bild vor Idess’ geistigem Auge auf, und sie fragte sich, ob er wohl wusste, was sie getan hatte. Verstand er es, oder war er ebenso wütend wie Shade?
»Was weißt du schon davon?«
»Ich habe euer Gespräch im Gang mitgehört.«
Eidolon stieß einen grauenhaften Fluch aus, während er das Stethoskop um seinen Hals mit weitaus mehr Kraft als nötig zurechtrückte. »Shade kapiert es einfach nicht. Niemand muss sterben.«
»Aber trotzdem hast du einen Bruder verloren.« Ihre Stimme war rau vor unterdrückten Gefühlen, und sie erkannte dasselbe Leid in den Augen des Dämonenarztes. »Es tut mir leid. Ich weiß, wie es ist, darum zu kämpfen, einen Bruder zu behalten und ihn dann trotzdem zu verlieren.«
»Dann weißt du ja, warum ich Lore sicher verwahren muss. Jetzt mehr denn je.«
Ja, das tat sie. Sollte sich Wraith auf Shades Seite schlagen, war Lore alles, was Eidolon blieb. Ihn zu verlieren, würde bedeuten, dass er für nichts und wieder nichts durch die Hölle gegangen war.
»Shade wird sich vielleicht besinnen«, sagte sie leise. »Es gibt immer noch Hoffnung. Wie heißt es doch … die Zeit heilt alle Wunden?«
Eidolon lachte bitter. »Ärzte heilen Wunden. Die Zeit? Die bringt Wunden höchstens dazu zu eitern.«
Als er daraufhin das Zimmer verließ, konnte Idess nur darum beten, dass er nicht recht hatte. Sollte es tatsächlich stimmen, so konnte sie sich kaum vorstellen, was fünfhundert Jahre des Eiterns Rami angetan haben könnten.
So ein Kater war echt ätzend.
Lore konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einen gehabt hatte. Normalerweise ging er schnell vorüber, es sei denn, er hatte es mit der Trinkerei wirklich übertrieben. Allerdings erinnerte er sich für gewöhnlich immer an seine
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