Den du nicht siehst
Limette, Zitrone und viel Eis.
Johan nahm einen ausgiebigen Zug von seinem Cocktail. Wegen seiner Reportage über den Stockholmer Bandenkrieg war er in der letzten Zeit arg gestresst gewesen. Er hatte länger dafür gebraucht als erwartet, und es war jeden Abend spät geworden. Erst eine Viertelstunde vor dem Sendetermin hatte er seinen Beitrag im Kasten.
Die Arbeit hatte an seinen Kräften gezehrt, und es tat gut, sich entspannen und die Anstrengung der vergangenen Woche wegspülen zu können. Obwohl er viel zu tun hatte, dachte er an Emma und verfluchte sich deshalb. Er hatte kein Recht, sich ihr zu nähern und möglicherweise Unruhe in ihr Leben zu bringen, aber sie hatte ein Interesse in ihm geweckt, das sich einfach nicht wieder legen wollte.
Doch der Gotländer Mordfall war mehr oder weniger aufgeklärt, und deshalb würde er nicht mehr dorthin fahren. Jedenfalls nicht in nächster Zukunft. Es war also besser, sie zu vergessen. Das hatte er in der vergangenen Woche hundertmal gedacht. Er kannte ihre Telefonnummer auswendig und hatte sie mehrere Male beinahe angerufen, es sich in letzter Minute aber anders überlegt. Er spürte, dass das nicht richtig wäre. Seine Chancen hätten gar nicht schlechter stehen können.
Er trank noch einen Schluck und schaute sich um. Ein Stück von ihm entfernt entdeckte er Madeleine Haga. Sie unterhielt sich mit Reportern aus der Nachrichtenzentrale. Klein, dunkel und reizend, in schwarzen Jeans und funkelndem lila Oberteil. Er ging zu ihr herüber.
»Hallo, wie geht’s?«, fragte er.
»Gut.« Sie lächelte zu ihm hoch. »Nur ein bisschen müde, hab den ganzen Tag Texte bearbeitet. Ich sitze an einer langen Reportage. Und du?«
»Ach, gut. Möchtest du tanzen?«
Seit Madeleine zum Sender gekommen war, fühlte er sich irgendwie von ihr angezogen. Sie war auf ihre raue Art attraktiv. Kurze Haare, große, braune Augen. Es ärgerte ihn, dass sie offenbar immer einen Bogen um ihn machte. Häufig arbeiteten sie zu unterschiedlichen Zeiten, und wenn sie sich dann endlich begegneten, schien sie es immer eilig zu haben. Manchmal sogar zu eilig, um ihn zu grüßen.
Jetzt fand er es wunderbar, mit ihr zu tanzen. Sie bewegte sich rhythmisch zur Musik, mit halb geschlossenen Augen und wiegenden Hüften. Ab und zu schaute sie ihm ins Gesicht. Schließlich beschlossen sie, ein Bier zu trinken und sich irgendwo hinzusetzen. In eine ruhige Ecke, hoffte Johan.
Als er die beiden kalten Bierflaschen vom Tresen nahm, klingelte sein Mobiltelefon. Er überlegte kurz, nicht dranzugehen, tat es dann aber doch. Und sofort erkannte er die zischende Stimme.
»Auf Gotland ist eine tote Frau gefunden worden. Auf dem Friedhof von Visby. Ermordet.«
»Wann?«, fragte er und schaute zu Madeleine hinüber. Sie hatte ihm den Rücken gekehrt und unterhielt sich mit jemand anders.
»Heute Abend, gegen neun«, zischte der Anrufer. »Ich weiß nur, dass sie ermordet worden ist und dass sie dort noch nicht lange gelegen haben kann. Und jetzt pass auf – sie hatte auch ihre Unterhose im Mund.«
»Bist du sicher?«
»Hundertprozentig. Bei der Polizei ist schon die Rede von einem Serienmörder.«
»Weißt du, wie sie ermordet wurde?«
»Nein, aber ich nehme doch an, dass es so ähnlich war wie bei dem Mord in Fröjel.«
»Okay. Vielen Dank«, sagte Johan.
Für ihn war das Fest zu Ende.
Emma saß am Küchentisch und schlabberte Kefir. Schlabbern war das richtige Wort. Sie hob den Löffel zum Mund, riss den Mund auf, goss den Kefir hinein und ließ dann den Löffel in den Teller klatschen. Kleine Kefirflecken bedeckten bereits den Tisch. Hoch zum Mund und runter in den Teller, hoch und runter. Wieder und wieder, mechanisch, im Takt. Ohne etwas zu sehen, starrte sie in ihren Teller. Die Kinder schliefen. Olle war mit Bekannten ein Bier trinken gegangen. Er hatte sie und ihre Unnahbarkeit satt. Das hatte er ihr heute Früh erklärt. Es war Samstagabend, und sie hatte keine Lust, den Fernseher einzuschalten.
Draußen wehte ein Westwind. Sie sah, wie sich die kleinen Birken vor dem Fenster beugten.
Emma empfand überhaupt nichts mehr. In der vergangenen Woche hatte sie sich in ihre eigene Welt eingekapselt. Sie war distanziert. Nahm die Kinder in den Arm, streichelte und küsste sie, ohne wirklich etwas dabei zu fühlen. Sie betrachtete ihre rosigen Gesichter und betastete ihre weichen Arme. Sie kochte, räumte auf, putzte Nasen, packte Rucksäcke, machte Betten, wusch, las Märchen vor und verteilte
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