Den Oridongo hinauf (German Edition)
letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass ihr gerade das schwerfällt. Wir haben nicht darüber diskutiert oder gesprochen. Beim ersten Mal lächelt sie nur ein wenig traurig. Oder vielleicht nur resigniert. Ich weiß nicht. Ich finde es schön, dass wir beide keine Worte darüber verlieren. Dass es so natürlich wirkt.
»Ich kann dich verstehen«, sagt sie plötzlich. »Ich glaube auch nicht, dass es irgendeinen Sinn hat. Evelyn hat angerufen. Aber kannst du nicht mit ihr reden? Sie glaubt, dass sie vielleicht etwas Falsches gesagt hat. Oder…«
»Ich werde mit ihr reden. Natürlich hat sie nichts Falsches gesagt. Ich bin doch gar nicht da.«
»Nein«, sagt sie. »Denn du sitzt in der Cafeteria, habe ich gehört. Und trinkst Kaffee und liest Zeitungen.«
Das war schön gesagt. In einer anderen Phase meines Lebens hätte ich viel für diesen Satz gegeben. Eine Frau, die sagt, sie habe gehört, dass ich in der Cafeteria sitze und Kaffee trinke und Zeitungen lese. Dass jemand mich gesehen hat. Und die Information weitergetragen, an eine, die gerade das interessant findet.
»Aber wie lange kann das so weitergehen?«
Es kann lange so weitergehen. Es kann für immer so weitergehen. Es ist nicht sicher, dass es eine Rolle spielt, was irgendjemand von uns unternimmt.
Aber das sage ich nicht.
»Er kann hier noch als Dorftrottel enden.«
»Wir haben sicher Platz für noch einen. Meinst du nicht?«
»Noch einen?«
»Ja«, sage ich. »Wenn Bendik Haga Bus fahren gelernt hat, wird Tom doch sicher auch irgendeinen Trick lernen können.«
Jetzt lächelt sie und sieht mich mit dem schwedischen Blick an. Eine weniger herzensgute Frau könnte mir von jemandem erzählen, der gelernt hat, ein dreirädriges Moped zu fahren.
»Du bist in letzter Zeit ruhiger geworden.«
Ich gebe keine Antwort. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Wir haben uns übrigens Sorgen gemacht, allesamt. Und das ist ja auch kein Wunder.«
»Du hast dir Sorgen gemacht? Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Ich habe noch niemals irgendwem eine Ohrfeige gegeben.«
»Ich finde, das ist dir dann sehr gut gelungen. Wenn es das erste Mal war.«
»Es war nur … einfach alles. Gerade hatte Arne angerufen. Das Holländerhaus…«
»Woher hast du gewusst, dass ich da war? In der Hütte?«
»Weil ich dir eines Nachts gefolgt bin. Außerdem … was hättest du tun sollen? Durch den Regen laufen, bis du einschläfst?«
Das wäre dann wirklich nicht das erste Mal, denke ich, aber ich sage es nicht. Das war in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt.
Ich sehe sie vor mir, wie sie mir folgt. Ich glaube nicht, dass mir je ein Mensch gefolgt ist, aber das kann ich natürlich nicht wissen.
»Sie ist stark«, sagt Berit und steht auf. Fängt an, den Tisch abzuräumen. »Sie wird es schaffen.«
»Evelyn?«
»Ja. Sie wird es auf jeden Fall schaffen.«
Mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ich es ebenfalls geschafft habe. Bin ich stark? Ja. Ich bin den Oridongo hinaufgefahren. In einer Einpersonenkabine. Es war eine weite Reise. Ich habe unterwegs die Haare verloren. Na gut.
»Du bist schön«, höre ich mich sagen. Es klingt wie in einem Film.
Oder fast noch ein wenig besser.
Sie dreht sich um. »Du nicht. Aber ab und zu strahlt etwas aus dir. Das habe ich gesehen. Viele Male.«
Ich fahre mir über den glatten Schädel. Die Glühbirne.
Glut.
Glut in Toms Augen, als sich die Arme seiner Mutter um seinen schmächtigen Körper legen und er zusieht, wie das Holländerhaus in einem Chaos aus Flammen und Rauch in sich zusammenstürzt.
Ich stelle mir vor, dass ich in dieser Nacht als Einziger seinen Blick gesehen habe. Es war … als ob
etwas
von außen her in die Welt sah. »Wo warst du jetzt gerade?« Sie legt mir die Hand auf die Schulter.
»Ich weiß nicht.«
Aber ich weiß, dass ich auch das erlebt habe. Dass etwas, vielleicht sogar etwas Bedrohliches, eine Art kosmische Unordnung, ein Chaos, die Welt durch meine Augen gesehen hat. Wie kann ich auf einen Ausdruck wie »kosmische Unordnung« kommen? Was ist kosmische Unordnung? Was liegt in dem Gefühl, dass etwas Außenstehendes versucht, durch meinen Blick auf die mich umgebende Welt Ordnung zu finden? Menschen, die in den Städten die Straßen entlanggehen. Der Wind in den Baumwipfeln. Der Regen, der auf den trockenen Sand am Strand fällt und winzige dunkle Punkte malt. Eine gelbe Plastiktasse in einer Hand. Jemand, der sagt: »Ich muss jetzt gehen. Ich bin schon spät dran.« War ich das,
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