Den Oridongo hinauf (German Edition)
wir sehen die Lichter verschwinden, während die Rufe hinter uns lauter werden, und dann lassen wir uns ebenfalls zurück in die neue Wirklichkeit fallen, wir, die wir bisher geschwiegen haben, jetzt rufen auch wir nach Tom (Tom? Tom?) – denn er ist nicht hier, er ist verschwunden, und ich denke, dass er jetzt versucht, aus der Welt wegzulaufen, ich habe das auch zweimal versucht, hatte aber nur wenig Glück dabei.
Und die Kleine ist, und das ist ja auch kein Wunder, vollkommen außer sich, von ihren eigenen Leuten verlassen, Fremden überlassen, sie stellt sich einfach quer, die Pastorenfrau, deren Namen ich mir nie die Mühe gemacht habe, in Erfahrung zu bringen, trägt sie ins Auto, die Pastorenfrau und andere weibliche Gemeindemitglieder, aber, aber, Herzchen, der Motor wird angelassen, jemand gibt Gas, der Wagen verschwindet, was ist nur los, wie soll damit umgegangen werden, damit kann man eigentlich gar nicht umgehen, eine Unmöglichkeit, so, wie die Wirklichkeit sich hier aufgeführt hat, muss alles schiefgehen, nur dieses eine nicht: Wir müssen Tom finden.
Und ich bin ganz ruhig. Das fällt mir auf. Dass ich dieses eine Mal ganz ruhig bin. Ich stehe da zusammen mit Berit, mit Ellen und Arne und mit Gunnar Pastor – wir bilden eine Gruppe zwischen anderen Gruppen, einzelne von uns haben wieder heißen Kaffee in der Tasse, denn wir ahnen ja schon, während wir hier stehen und Lensmann Tharald Reine zuhören: Das kann eine lange Nacht werden.
»Er kann nicht weit gekommen sein«, sagt Tharald. »Er muss irgendwo ganz in der Nähe sein. Aber es ist kalt. Es wird heute Nacht noch kälter werden. Es eilt.«
Er hat offenbar seine Zeit gut genutzt, mitten in dem Chaos, das er in den Griff bekommen muss, denn schon kommen Einzelpersonen und Gruppen herunter vom Dachboden und herauf aus dem Keller, aus Küche und Gemeinderaum. Sie schütteln den Kopf.
Der Junge ist nicht im Haus.
Gut.
Der Ortskern muss durchsucht werden. Und natürlich der Hafenbereich.
Außerdem führen zwei Straßen fort von hier. Eine nach Norden und eine nach Viken und Neset und zum Holländerhaus. Autos voller Menschen werden in beide Richtungen geschickt, es ist wichtig, nicht die Stichstraßen zu den Höfen und die Wege und Pfade zu vergessen, die von der Hauptstraße wegführen, fort, er muss noch ganz in der Nähe sein, die kleinen kurzen Beine…
»Und dann ist da noch das Wohngebiet«, sagt jemand.
Ja. Niemand darf heute schlafen gehen, ohne Gärten, Schuppen durchsucht zu haben…
Das sehen doch alle ein. Es ist kaum vorstellbar, dass irgendwer hier auf der Insel überhaupt den Versuch machen kann, schlafen zu gehen, solange das hier nicht vorüber ist. Die, die nicht hier sind, sind bereits per Mobiltelefon informiert. Sogar die, die sich auf der Westseite aufhalten, sind jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach unterwegs und suchen zwischen Apfelbäumen und in Bootsschuppen und Scheunen. Auch wenn Tom sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht plötzlich Flügel zugelegt hat. Oder sie sind zu Fuß und mit dem Auto unterwegs hierher. Das Einzige, was ganz sicher ist, ist, dass kein Bewohner von Vaksøy, der über fünfzehn Jahre alt ist, jetzt vor dem Fernsehschirm oder dem Computer sitzt. Später wird sich herausstellen, dass das Personal des Pflegeheims Solvangen alle Hände voll damit zu tun hatte, die alten Leute im Haus zu halten, als die Lage sich zuspitzte.
Denn das tut sie.
Wir können Tom nicht finden.
Ich gehe allein los. Besser so. Wenn es einen Mann gibt, dem jeglicher Herdentrieb einfach fehlt, dann ist das Ulf Vågsvik. Nein. Loslassen!
Berits leicht resignierte Maske.
Ich gehe zu den alten Bootsschuppen hinunter, die jetzt renoviert worden sind: Sie sind sozusagen von den Toten auferstanden, zumindest von der Untätigkeit, nach den reichen Fischfangjahren in den Vierzigern und Fünfzigern. Jahrzehnte der Leere und des Verfalls. Man reißt die Hälfte der alten Holzhäuser im Zentrum ab, um Platz für die Gemeindeverwaltung und den neuen Supermarkt zu bekommen. Aber die Bootshäuser bleiben stehen. Die Gemeindekasse ist leer, und man hofft, dass irgendein Penner im Suff durch ein günstiges Versehen die ganze Chose abfackelt.
So ist es mir erzählt worden.
Jetzt preisen alle die fehlende Tatkraft der Trinker. Jetzt sind die alten Bootsschuppen renoviert worden, in bunten Farben angestrichen, hier wird Keramik verkauft, und Aquarelle von Möwen und Papageientauchern, oder auch Coffee to go. Oder alte Bücher.
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