Den Oridongo hinauf (German Edition)
Dafür sind wir nicht angezogen …«
Ich sage, dass Tom aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Jacke losgelaufen ist, und dann hängt sie mir um den Hals, was bin ich dumm und rücksichtslos, noch nach all diesen Jahren. Kann ich niemals lernen, mich richtig zu verhalten? Ich drücke sie an mich und bitte um Verzeihung.
»Du zitterst ja vor Kälte«, sage ich und bebe dabei unkontrolliert.
Wir gehen zum Gemeindehaus hoch, wo der glühend heiße Kaffee strömt.
Wir suchen die ganze Nacht. Wir, die von anderen Teilen der Insel kommen, können von den Leuten aus Laugen Strumpfhosen leihen, lange Unterhosen, Pullover und Jacken, und Paare und Gruppen kämmen Gärten und Parks durch, den Friedhof, Wege und Pfade, wir suchen überall, wir trinken so viel Kaffee, dass wir flüssig kacken, aber wir geben nicht auf, und am Ende, gegen halb fünf, muss ich Berit anflehen, mit nach Hause zu kommen, denn jetzt habe ich den Eindruck, dass ihr linker Mundwinkel anfängt, sich nach unten zu ziehen, und dann kommt zum Glück die Kavallerie in Gestalt von jungen, starken Menschen von Heimwehr und Rotem Kreuz, sie kommen mit der Fähre, die außerhalb von Fahrplan und normaler Ankunftszeit einläuft, und Tharald Reine und Jenny Lydersen machen jeglicher lokalen Initiative ein Ende, jetzt müssen wir schlafen, sonst bricht die ganze Gemeinde zusammen, und das hilft niemandem weiter, morgen ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch ein Tag, dem wir uns stellen müssen, er ist schon da, und alle sind so erschöpft, dass sie keinen Widerspruch mehr über sich bringen.
Auf dem Weg nach Viken sitzen wir alle vier, Arne, Ellen, Berit und ich, im Auto, ohne auch nur ein Wort zu sagen. So ist es jedenfalls in meiner Erinnerung.
Vier Menschen in einem Vakuum.
Lieber Magne! Wir stehen zusammen unter der Dusche, Berit und ich, wir sind so durchgefroren, nicht einmal die Fahrt von Laugen her mit voll aufgedrehter Heizung hat daran etwas ändern können. Jetzt müssen wir uns von Kaskaden von heißem Wasser überschütten lassen, und wie du ja weißt, birgt der kleine Warmwassertank nicht gerade einen Überfluss, es gibt nur eine Möglichkeit, die Wärme zu finden, wir müssen zusammen duschen, und alles ist (wie so oft) ganz anders als in den Fantasien, die ich als junger Mann hatte, wir stehen hier aus Notwendigkeit zusammen, und anstelle von Geilheit und Gefummel klammern wir uns aneinander, unter dem heißen Wasserstrom, und dann fangen wir an zu weinen, erst sie, dann ich, wir sind so müde, das Ganze ist so hoffnungslos, was liegen da nur für ein Abend und eine Nacht hinter uns? Was ist das um alles in der Welt für ein Spiel, in das Gott uns hier hereingezogen hat?
Wir ziehen uns wieder an. Wir sind hellwach. Es hilft alles nichts.
Aber nicht mehr Kaffee.
Berit kocht dicke heiße Schokolade.
Wir bleiben in der Küche sitzen, während das graue Licht über den Tisch wandert, wo unsere Mobiltelefone liegen und auf Signale warten, die über Satelliten irgendwo im Weltraum kommen. Eine Mitteilung. Wir haben ihn. Alles in Ordnung. Wir haben Tom unversehrt gefunden.
Aber kein Pieps.
Und viel zu spät, um andere anzupiepsen.
Ich strecke die Hand über den Tisch aus und fasse ihren linken kleinen Finger. Das mache ich in regelmäßigen Abständen. Siehst du? Ich verlange nicht die ganze Hand.
»Dreh das Radio an«, sagt sie und nickt, es steht in dem niedrigen Regal unter dem Fenster hinter mir.
Das tue ich.
»Nein. Radio Binnøy.«
Das Lokalradio.
Ich fummele. Gebe vor, die Frequenz nicht genau zu wissen. Sie mustert mich wieder mit ihrem schwedischen Blick. Den lächelnden Augen. Den feinen Falten.
Herrgott, es muss doch erlaubt sein, im ganzen Elend eine winzige Pause einzulegen. Es muss doch erlaubt sein, ein Lächeln anzunehmen und eins zurückzugeben. Obwohl. Alles ist, wie es ist? Wir haben uns doch eben erst leer geweint, das Gleichgewicht müsste also stimmen?
Hilde Sotteng spielt Leonard Cohen, jetzt in der frühen Morgenstunde. »In my secret life«. Tja. Was soll sie sonst machen, als etwas zu spielen, das zwischen Trauer und Populärmusik liegt? Kein Junge gefunden. Weder tot noch lebendig. Oder?
Ich merke, dass es guttut, hier zu sitzen und einander ein wenig traurig anzulächeln. Die Lage kann nicht blauer und blutiger werden als gerade jetzt, aber zugleich … Wir können Hilde Sottengs Stimme nicht hören, ohne zu lächeln. Das hat mit unserer gemeinsamen Vergangenheit zu tun, und wenn man einander spät im
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