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Den Oridongo hinauf (German Edition)

Den Oridongo hinauf (German Edition)

Titel: Den Oridongo hinauf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjørnsen
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Ein Antiquariat. Auf dem frisch gebauten Steg, der noch immer nach Imprägniermittel riecht, steht ein weiß gestrichener Hocker. Darauf setzte ich mich und sehe, wie die anderen in die Boote steigen oder hinten bei der Werft Scheinwerfer aufstellen. Grelles Licht ins kalte Wasser. Leise Rufe. Befehle.
    Wir werden dich atmen lehren, Tom! Jetzt werden Magne und ich dich atmen lehren. Ob du nun auf der Straße unterwegs bist oder zum Beispiel irgendwo unter mir hier in der Dunkelheit sitzt, auf den von Algen überwachsenen Steinen, die das Meer bloßlegt, wenn es sich zurückzieht, jetzt ist Ebbe. Atmen muss man. Man muss richtig atmen. Das ist die erste Regel für alle, die auf der Flucht sind. Sogar die Tiere halten es so. Überleg doch mal, wie wichtig es dann für dich ist, einen kleinen Jungen menschlichen Geschlechts. Einen, der seine Seele wach und leuchtend erhalten soll.
    Spürst du deine Hoden? Den kleinen Sack, auf dem dein Schwanz ruht? Ja, das tust du. Und mit dem Sack fängt es an – im wahrsten Sinne des Wortes, das weißt du, denn das hast du in der Schule gelernt, von deinen Eltern, oder aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Straße. Aber wenn du jetzt Atem holst, wo immer du sein magst, ob du still sitzt oder rennst, solltest du dir vorstellen, dass du nicht deine Lunge mit Luft füllst, sondern den Sack unter deinem Piephahn. Dass die Luft direkt in den Sack zieht, dass der sich füllt und groß wird wie ein Ballon. Tut das weh? Nein, das tut nicht weh. Merkst du das? Und wenn dieser Ballon nicht noch mehr Luft in sich aufnehmen kann, wenn er zum Bersten gefüllt ist, dann schick einen dünnen Strahl in deinen Bauch hoch, du kannst dir vorstellen, dass es so ist, wie mit steifem Schwanz zu pissen; ein dünner, harter Strahl, aber jetzt eben ein Strahl aus Luft, der in den Bauch schießt und weiter hoch, durch Gedärm und Brust und in den Kehlkopf, ins Gehirn, der durch das Gehirn flutet – und hinaus durch ein winzig kleines Loch im Hinterkopf. Langsam. So sollst du atmen. Du sollst die Luft durch den Mund einholen und sie durch den Sack weiterlaufen lassen (ungefähr wie durch einen Dudelsack). Und dann lässt du den Sauerstoffstrahl durch deinen Körper fegen, und lässt ihn durch das kleine Loch im Hinterkopf entweichen. Du sollst dir das so vorstellen. Dieses Spiel sollst du spielen, wenn du atmest, und wenn du dieses Spiel spielst, wirst du nach einer Weile merken, dass du warm und ruhig wirst, dass ein gelbes Licht dich umschließt, das in dich hinein- und aus dir herausstrahlt, und dieses Licht schaffst du selbst, erhältst es, es ist dein eigenes Leben, das um dich herum und in dir scheint, heute Abend bist du plötzlich so alt geworden, dass du vieles lernen musstest, was viele erst lernen, wenn sie erwachsen sind. Nicht nur atmen, sondern zum Beispiel sehen. Oder lauschen.
    Wenn du dich das nächste Mal ausruhst, dann lausche auf die Trommeln.
    Gib nicht auf, bis du sie hörst, auch wenn sie weit, weit weg sind.
    Sie sind da. Das verspreche ich dir.
    Du wirst sie hören.
    Es ist kalt. Ich finde es schön, hier zu sitzen und zu frieren. Ganz schön verdammt schön. Ab und zu lösen sich Schatten aus den engen Durchgängen zwischen den Schuppen hinter mir. Bekannte. Unbekannte. Gibt es etwas Neues? Nein. Nichts Neues. Nach und nach sitzen wir hier zu fünft, sechst, während wir dieser seltsamen unbeholfenen Suche zusehen, die überall am Ufer vor sich geht. Scheinwerfer, Taschenlampen. Grüne, leuchtende Tunnel zum Boden hinunter. Männer und Frauen, die sich über den Bootsrand beugen. Ein Bild, das aus der Zeit herausgelöst ist, geht es mir auf. So haben die Menschen hier oben einander gesucht, seit das Eis sich zurückgezogen und die Fjorde geöffnet hat. Hinter uns dröhnen die Automotoren. Hören wir Stimmen. Tom! Tom! Tom?
    Mein Telefon klingelt.
    Es ist Berit.
    »Wo bist du?«
    »Ich bin unten am Anleger bei den Bootsschuppen. Und du?«
    »Ich komme runter.«
    Und da sitze ich hier und warte auf eine Frau. So kalt, dass ich zittere.
    Jemand sagt: »Wo kann er denn bloß sein?«
    Wir sind jedenfalls auf der Welt. Allesamt. Daran kann keinerlei Zweifel bestehen. Aus irgendeinem Grund bin ich mir da sicher. Er ist noch nicht aus der Welt.
    Aber wie lange noch?
    Berit kommt. Sie ist außer sich, und das darf sie nicht sein. Hat sie geweint? Vielleicht. Viele haben geweint.
    »Komm«, sagt sie. »Wir gehen nach Hause. Oder fahren. Wir können nicht die ganze Nacht hier draußen bleiben.

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