Den Oridongo hinauf (German Edition)
ihn zurücklegen. Ich habe das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Wie die, die nach mir gekommen sind, es getan haben. Nachdem ich aus der Welt zurückgekehrt war.
Aber was, wenn sie etwas gefunden haben?
Sie können nichts gefunden haben. Niemanden. Er kann nicht den ganzen Weg hierher gekommen sein. Falls nicht jemand …
Das geht zu weit.
Aber hat wirklich jemand gesehen, dass er weggelaufen ist?
Nicht, dass ich wüsste. Ich weiß es nicht.
Trotzdem gibt es nur eine einzige Möglichkeit. Und zwar, dass er ins Wasser gegangen ist. Im Sund gibt es eine starke Strömung. Er kann in kurzer Zeit sehr weit gekommen sein.
Aber was ist das für eine Art Reaktion? So plötzlich und blind vorzugehen, so entschieden?
Dann denke ich an mich selbst als Junge. Doch. Es ist möglich. Es ist absolut möglich.
Bin ich eingeschlafen? Das kann schon sein, denn was liegt schließlich für eine Nacht hinter mir? Im Grunde keine richtige Nacht, sondern eine Art kranke Verlängerung des gestrigen Tages. Der an sich schon zu den kränksten Dingen gehören muss, die ich je erlebt habe. Was ein gewaltiges Geständnis ist, wenn man bedenkt, was ich alles erlebt habe … es war so
unendlich
krank. Aber ich meine: ein toter Mann und ein Junge, der ins Wasser geht? Ein zwölfjähriger Knabe, der sich das Leben nimmt, weil sein Vater…
Ich höre Schritte im Gras. Aber was heißt Schritte? Es ist das Geräusch von jemandem, der sich durch das nasse Gras vom vergangenen Jahr bewegt. Das Gras ist hoch, was ich höre, ist also vermutlich das Gras, das schlägt, peitscht, gegen irgendwelche Hosenbeine oder vielleicht gegen hohe Stiefel.
Eine Männerstimme, die fragt, ob alles in Ordnung ist. Ob bei mir alles in Ordnung ist.
Ich setze mich auf.
Es sind zwei Jäger. Der eine ist in meinem Alter, also um die fünfzig, der andere ist ein gut aussehender junger Dachs mit rostrotem Bart und himmelblauen Augen. Sie haben die Schrotgwehre über den Schultern liegen. Am Gürtel des Älteren hängen ein Hase und etwas, das möglicherweise ein Auerhahn ist. Ein schwarzer Vogel.
Ich komme mir ein bisschen dumm vor. Weil ich hier auf der Steinplatte sitze, die noch dazu jetzt eiskalt ist, weil die Sonne in eine Nebelbank getaucht ist. Die hängt nass und grau über dem Tal, auf halber Höhe der Tannen auf dem anderen Bachufer.
Und der Bach – wie sagt man: gluckert? Ja. Ein gluckerndes Wassergeräusch, das geht mir auf. Gluck, gluck, gluck. Fast ein wenig metallisch. Die Schwerkraft, die die Wassermoleküle gegen die Steine schlägt. Wie durch eine Flöte. Ein Blasinstrument.
Ich stehe auf und wische mir den Staub ab. Bei mir ist alles in schönster Ordnung.
Sie stellen sich vor. Ich kenne ihren Nachnamen. Sie sind Vater und Sohn. Sie leben auf der Insel. Sie wissen, wer ich bin.
Ich weiß auch so ungefähr, wer sie sind. Er arbeitet bei der Spedition. Der Vater.
Ich sage: »Wir haben fast die ganze Nacht gesucht. Und als wir aufhören mussten … wir konnten nicht schlafen, weder Berit noch ich. Und da habe ich beschlossen, in den Schafställen nachzusehen.«
Und die Steinplatte. So warm…
Ihnen ist es genauso ergangen. Haben die ganze Nacht gesucht. Zwei Stunden aufs Ohr. Dann eine Runde im Wald, sie waren sogar ganz oben beim Lovatn. Aber nichts. Nur ein Hase und ein Vogel.
Am Waldrand auf der anderen Seite des sumpfigen Geländes steht eine Frau. Es ist ganz deutlich, dass sie auf die beiden wartet. Sie wollten nur rasch nach der Gestalt sehen, die auf der Steinplatte liegt, selbst wenn alle drei natürlich schon aus der Ferne erkennen können, dass es sich um keinen zwölf Jahre alten Jungen handelt.
»Ich hatte mich auf die Steinplatte gesetzt«, sage ich. »Die war so warm und angenehm. Offenbar bin ich eingeschlafen wie ein Stein.«
»Es ist entsetzlich«, sagte der Vater, und jetzt kann ich mich an seinen Vor- und an seinen Nachnamen erinnern. Er heißt Ove Mellberg. »Was hier oben passiert ist. Es ist nicht zu glauben. Aber er muss doch ins Wasser gegangen sein. Oder was meinst du?«
Ich bin so wenig daran gewöhnt, gefragt zu werden, was ich glaube und meine. Ich bin so wenig daran gewöhnt, dass ich sofort froh und munter bin, so unpassend das auch sein mag. Woran ich gewöhnt bin, ist, gefragt zu werden, was ich getan habe. Und warum ich tue, was ich tue.
»Doch«, sage ich und presse den Priem zusammen. Spucke aus. Schiebe ihn unter meine Oberlippe. »Ich glaube, er muss ins Wasser gegangen sein. Ich kann
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