Den Oridongo hinauf (German Edition)
Gunnar Larsen. Statt gleich zur Quelle zu gehen. Zu mir.
Und dann hält Gunnar Pfaff einen kurzen Vortrag über Wunder im Alltag. Gottes oft unerwartetes Eingreifen in unser Leben. Wir dürfen nicht glauben, dass Gott ein anderer geworden ist, als er gestern war, sagt Gunnar Pfaff, und gibt uns damit zu verstehen, dass wir noch immer mit allem Möglichen aus dieser Richtung rechnen können. Ja, nicht wahr, sagt Hilde Sotteng und zwinkert mir zu. »Denn jetzt waren wohl viele von uns kurz vor dem Aufgeben.«
Und dieser ganz unschuldige Satz klingt bei ihr durch eine kleine Änderung im Tonfall ungefähr so wie: Denn jetzt haben doch eigentlich die meisten von uns geglaubt, dass Gott, der ja immerhin entscheidet, wann ein Sperling vom Zweig auf den Boden plumpst, schon längst beschlossen hatte, dass der kleine Tom mit Krabben in den Augenhöhlen und einem großen Tintenfisch im Mund draußen im offenen Meer liegen sollte.
»Und jetzt können wir nur danken und beten«, sagt Gunnar Pfaff nun und räuspert sich, um weitere Informationen über Gottes seltsame Ratschlüsse und Wege in der Welt der Menschen zu erteilen.
Doch nun bedankt sich Hilde Sotteng höflich für das Gespräch und schaltet ihn mitten im Satz aus, während sie sagt, dass jetzt sicher im Pfarrhaus eine Dankeszigarre wartet.
Und während Hilde Sotteng nun verkündet, dass der nächste Gesprächspartner, ja, sogar im Studio zugegen, Ulf Vågsvik ist, der Mann, der den kleinen Tom van der Klerk gefunden hat – und während sie unglaublicherweise irgendein mir total unbekanntes Stück von Miles Davis in den Raum strömen lässt, denke ich an Jesus Christus und an die Männer und Frauen, die unser Vater im Himmel irgendwann ausgewählt hat, um ihn hier auf Erden zu vertreten. Denn was ist mit ihnen? Mit Gunnar Larsen? Mit unserem eigenen Pastor zu Hause, der mich zur Konfirmation geführt hat? Dem Schiffsgeistlichen an Bord unseres namenlosen Kahns auf dem Oridongo? Was erzeugt diesen krankhaften Tonfall von Erwachsenem zum Kind, wenn sie die großen Fragen anschneiden? Warum sprechen sie mit ihren Altersgenossen wie mit Fünfjährigen? Warum dieses Gejammer?
In der Zeit, in der ich den Strom hinauffuhr und zunächst nur für kurze Momente ganz allein an Deck kommen durfte, saß ich unten in der Kajüte und las die Evangelien, zum ersten Mal als Erwachsener. Und da stoße ich auf eine ganz andere Person als den, über den ich in der Grundschule gelernt habe – ganz zu schweigen von dem kindischen Gefasel, das mir mein ganzes Leben lang serviert worden ist. Der reife Mann, der mir begegnet, ist kein sanfter Nennonkel aus Nazareth, sondern eine komplexe, ja, schwierige Person mit heftigen Stimmungsschwankungen. Wie eine Art dreizehnter Apostel versuche ich, ihm durch den Text zu folgen, aber es ist nicht leicht, in seiner Nähe zu sein. Ich erkenne mich in ihm wieder. Diese jähen Stimmungsschwankungen. Diese fast konstante Kritik und sein Tadel an allem und allen. Alles ist falsch. Alle irren sich. Nur ich nicht. Dann der plötzliche Zweifel. Wut und Sanftheit. Ich will mich nicht mit Jesu Größe vergleichen. Ich besitze keine heilende Kraft. Rein rhetorisch gesehen bin ich ein Tolpatsch im Vergleich zu ihm. Aber diese stimmungsmäßige Achterbahn … die kenne ich. Und da und dort … Auf dem Schiff den Oridongo hinauf…
Hilde Sotteng macht mir ein Zeichen, dass die Melodie sich dem Ende nähert. Schüttelt energisch meinen Arm.
»Ulf Vågsvik. Jetzt sitzen wir hier im Studio. Das war für uns alle ein bemerkenswerter Tag.«
»Ja.«
Und ich verstehe es sofort. Dass das so nicht geht. Ich kann hier nicht sitzen und bei einer solchen Gelegenheit einsilbige Antworten geben. Ich bin zum ersten Mal im Radio, und ich habe das seltsame Gefühl, dass Mutter mich von der anderen Seite des Todes her hören kann. Ich habe einen verlorenen Jungen gefunden. Einen, den alle für tot gehalten haben. Ich muss meine Glut von früher an diesem Tag wiederfinden. Muss daran denken, wie Jesus den Tempel gesäubert hat. Wie ich selbst einer vollbesetzten Cafeteria erzählt habe …
»Ja, wir sind alle hier auf der Insel jetzt froh, das brauche ich wohl nicht zu sagen. Aber kannst du uns erzählen, was eigentlich passiert ist?«
Ich zeige auf die Uhr. Sehe sie fragend an.
Sie winkt ab. Zeit genug. Das hier ist Radio Binnøy. Nicht der NRK. So verstehe ich diese Geste.
»Na, es fängt eigentlich damit an, dass ich eine Zahnfüllung verliere. Oder fast. Das war
Weitere Kostenlose Bücher