Den Oridongo hinauf (German Edition)
Hilde nennen? Das kommt mir total unnatürlich vor. Und dann noch ein Ulf. Ulf Lundell. Der also nicht passt.
»Lass was von Miles laufen!«, höre ich mich selbst sagen.
Und merke, wie sich eine unerwartete Sicherheit über mich senkt.
Es ist dieses »lass laufen«. Profihaft und lässig. Und »Miles«. Mein guter Freund Miles.
Ihre Finger über die Tastatur.
»Etwas von ›Kind of Blue‹«, füge ich hinzu.
»Ja. Doch. Jazz … mal sehen … ›Kind of blue‹ … Aber das ist zu lang, Ulf. Das kürzeste Stück ist 9.22. Ja, ja wir ziehen runter. Das geht schon.«
Das finde ich nicht. Ich finde überhaupt nicht, dass man bei Miles Davis etwas herunterziehen darf. Das tut man einfach nicht. Es erinnert mich an die Arroganz des weißen Mannes.
Das sage ich ganz offen.
Sie schaut mich überrascht an. Erstaunt über meinen jähen Übergang von fast totaler Stummheit zu heftigem Engagement.
»Na gut, aber dann lassen wir eben doch Uffe laufen. Ist doch auch gut, wenn die da draußen aufwachen.«
Na gut, denke ich und schweige. Ein versoffener Schwede. Das Wichtigste ist ja trotz allem, dass der Junge lebt.
»Setz die Kopfhörer auf. Bist du nervös?«
Ich überlege. Setze die Kopfhörer auf und sehe für einen Moment meine Hände vor mir, die Toms rote Ohren bedecken. Nein. Ich bin überhaupt nicht nervös. Ich bin, wenn nicht ganz ruhig, so doch
ziemlich
ruhig.
Ich habe mich im Leben so oft in solchen Situationen gesehen. Wie ich vor einem Mikrofon sitze. Oder vielleicht in einer beliebten Diskussionsrunde im Fernsehen, mit einer sogenannten »Mücke« am Revers. Wie ich mich über irgendetwas äußere, mit dem ich mich auskenne. Etwas, für das ich brenne. An das ich glaube. Zu wissen, dass meine Stimme etwas vorträgt, zu dem an den Kaffeetischen draußen in der Welt von jedermann nachdenklich genickt wird. Meine Güte, da sagt dieser Ulf Vågsvik aber wirklich ein paar Wahrheiten!
Und jetzt sitze ich also hier, wenn nicht gerade als Held, dann doch als Mann, dessen Aussagen hier auf den Inseln von großem Interesse sind, und weshalb sie mit ziemlicher Sicherheit im ganzen Land ausgestrahlt werden. Der Junge unversehrt gefunden. Von einem gewissen Ulf Vågsvik. Die Nachricht ist natürlich längst per SMS und Mobiltelefonaten verbreitet worden, aber noch hat niemand die Version der Hauptperson gehört. Den Kronzeugen erzählen hören.
Jetzt erklingt das vertraute Intro. Dann Hilde Sottengs Stimme, die erzählen kann, dass sich diese Abendsendung nur um das Fantastische drehen wird, das sich an diesem Nachmittag auf Vaksøy zugetragen hat, nämlich, dass der seit fünf Tagen vermisste kleine Junge, Tom van der Klerk, wieder aufgetaucht ist, und noch dazu unversehrt. Wir werden Interviews mit Pastor Gunnar Larsen, mit Lensmann Tharald Reine und nicht zuletzt mit Ulf Vågsvik hören, dem Mann, der Tom gefunden hat.
Nicht zuletzt? Was in aller Welt hat Gunnar Pfaff mit der ganzen Sache zu tun? Dass Tharald befragt wird, ist wohl nur recht und billig, auch wenn ich meinen möchte, dass er mehr als genug damit zu tun hat, in dem stillgelegten Gemischtwarenladen Fingerabdrücke zu sichern. Übrigens. Hat es eine Pressekonferenz gegeben? Hat Hilde Sotteng ihn so gut im Griff, dass sie der Pressekonferenz vorgreift, die zum Beispiel für neun Uhr anberaumt ist?
Ulf Lundell legt mit einer Art Springsteen-Plagiat in schwedischer Sprachtracht los. Es ist sehr laut. Es ist ganz und gar unpassend. Ich schüttele den Kopf, aber Hilde Sotteng lacht nur. Sagt, dass wir »off« sind und wieder auf Sendung sein werden, wenn Uffe verstummt.
Ich frage, wie es mit der Pressekonferenz aussieht.
Sie sagt, die werde später am Abend stattfinden, aber Tharald habe einen kurzen Kommentar versprochen. Für die Bewohner von Vaksøy und Umgebung.
»Aber Gunnar Pfaff…«
»Pst! Mach dich bereit!«
Es wird ein seltsames Erlebnis. Anders kann ich das nicht ausdrücken. Sie fängt natürlich mit Lensmann Tharald an, der so knapp und verschlossen ist, dass er fast übellaunig und abweisend wirken kann. Doch. Stimmt. Der Junge wurde unversehrt aufgefunden. Er wird von Arzt und Psychologe betreut. Wo er sich jetzt befindet? Kein Kommentar. Tharald verweist auf die für neun Uhr anberaumte Pressekonferenz. Genau, wie ich gedacht hatte. Danke. Ebenfalls. Aber dann – statt sich an mich zu wenden, wo ich doch im Studio äußerst anwesend bin, führt sie noch ein knisterndes Telefongespräch, diesmal mit Gunnar Larsen, Pastor
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