Den Oridongo hinauf (German Edition)
gewandet in Magnes Windjacke, über dem blauen Overall mit den Farbflecken. Wie ich das Boot ausschöpfe. Wie die Kamera mir auf der Straße zur Milchrampe folgt, wo ich stehen bleibe und zeige und erkläre. Aber dann kommt natürlich ein Schwenk und es geht weiter zu den anderen. Der glücklichen Mutter. Dem bedächtigen Lensmann.
Dann ist mehr oder weniger Schluss. Es ist ja seltsam, was da passiert ist, aber es war eben doch nur ein Verschwinden mit glücklichem Ausgang, und das ist ja nicht dasselbe, als wenn Tom ohne Kopf gefunden worden wäre, eingewickelt in einen schwarzen Plastiksack irgendwo am Straßenrand. Auf der ganzen Welt verschwinden jeden Tag Kinder, und nur die allerwenigsten werden unversehrt wieder aufgefunden, in Daunenjacke und Skistiefeln, auch wenn es ein Mysterium ist, woher diese Kleidungsstücke stammen. Alles in Zeitungen und im Fernsehen abgebildet. Dann stirbt der Fall in der Öffentlichkeit.
Aber nicht hier oben auf Vaksøy. Hier wird doch die ganze Zeit geredet. Spekuliert. Ich will nicht sagen, dass es so entsetzlich viel offenen Klatsch gibt, niemand (soviel ich weiß) deutet die Möglichkeit an, irgendwer habe den Jungen versteckt, sich möglicherweise an ihm vergangen, außerdem verbreitet die Nachricht sich ziemlich schnell: Nichts weist darauf hin, dass Tom missbraucht worden ist. Jedenfalls ist physisch nichts zu sehen. Das sickert aus der Arztpraxis durch. Aber irgendwo muss er gewesen sein. Auf einem Boot? Kann er sich an dem Abend auf einen Fischkutter geschlichen haben und mit hinausgefahren sein – vielleicht ohne Wissen der Mannschaft? Aber dann? Warum um alles in der Welt sollten normale Menschen, solide Meeresarbeiter, das verschweigen? Außerdem ist da noch Toms Stummheit. Was hat den Jungen dazu gebracht, mit dem Sprechen aufzuhören? Der Tod des Vaters? Ist das so »einfach«? Vielleicht.
Ich beschäftige mich in dieser Zeit mit Magnes Boot. Es ist ein kleiner Kutter. Er ist vernachlässigt worden, ich habe mich einfach nicht daran gewagt, genauer gesagt, ich habe mich nicht allein damit hinausgewagt. Ich kenne mich nicht gut genug mit Booten, Motor und Meer aus. Arne kommt ab und zu mit. Genauer gesagt, fährt mit mir hinaus. Und Reinert von Neset. Sie lernen mich an, aber das geht langsam. Jetzt kratze und male ich und erledige anfallende Arbeiten, wie sie es mir gezeigt haben. Bastele am Motor herum. Bringe ihn in Gang. Solche Dinge. Gewöhne mich daran, an Bord zu sein. Irgendwann will ich allein hinausfahren und bei Skarven eine oder zwei Angelschnüre auswerfen. Zum Haushalt beitragen. Das habe ich mir zum Ziel gesetzt.
Eines Tages entferne ich gerade Fischblut und von Kaffee und Kautabak hinterlassene Streifen aus dem Steuerhaus, als Robert Lakseng den Hang vom Haus herunterkommt.
Ich kenne ihn nicht, aber ich weiß gut, wer er ist. Er ist der Lehrer. Ein langer Lulatsch mit dichten Augenbrauen unter einem störrischen Schopf. Ich habe gehört, dass er einige Jahre vor mir aus Ostnorwegen hergekommen ist. Mit Frau und kleinem Kind. Dann ist sie mit dem Kind gegangen, er ist geblieben.
Er tritt auf den Steg und schiebt einen Priem ein.
»Ja, ja.«
Ich reiße mir meinen unter der Oberlippe hervor und schnippe ihn ins Meer. Spucke. Grunze irgendetwas, das ich nicht einmal selbst verstehe.
Er räuspert sich. »Und hier ist Boot angesagt?«
»Hier ist Boot angesagt. Will er nicht in die Schule gehen?«
»Doch. Aber er ist doch irgendwo, wo … also haben wir beschlossen, dass er auch gleich eine oder zwei Wochen zu Hause bleiben kann. Um zu sehen, ob es vorübergeht. Wenn ich wenigstens das Gefühl hätte, auf irgendeine Weise in Kontakt mit ihm zu sein. Dass er mich hört. Und dann habe ich mir gedacht … Nein, wir haben auch darüber gesprochen. Zu mehreren. Dass du ihn gefunden hast.«
Ich denke an seine Hand in meiner.
Etwas steckt in meinem Hals. Und will nach oben. Oder nach unten.
Ich frage: »Wer hat darüber gesprochen?«
Es ist durchaus wichtig, das zu wissen. Es ist absolut notwendig.
Es war der Arzt. Und der Lensmann. Und die Mutter. Und er, natürlich. Der Lehrer aus dem Süden.
»Tharald wäre das also recht?«
»Tharald wäre das recht, ja. Er hat es doch vorgeschlagen.«
»Wohnen sie jetzt bei Tharald?«
Das weiß ich doch.
»Ja, da sind sie noch. Wir müssen endlich das Holländerhaus fertigmachen, was?«
Der Meinung bin ich auch, und das sage ich. Ich habe in den letzten Tagen viel daran gedacht. Dass sie jetzt bald in ihr
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