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Den Oridongo hinauf (German Edition)

Den Oridongo hinauf (German Edition)

Titel: Den Oridongo hinauf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjørnsen
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jemand, ein Fremder, in mir eingesperrt war. Ich stehe auf, gehe zu ihm und nehme seine Hand. »Komm.«
    Er kommt bereitwillig mit. Oder … bereitwillig … das ist wohl kaum das richtige Wort. Ich nehme ihn mit, und er lässt mich gewähren. Ich denke, dass es ja kein Problem macht, ihn in die Schule zu schicken. Das Problem ist, dass sie keinen Kontakt zu ihm bekommen.
    Wir gehen durch das Wohnzimmer, wo Robert Lakseng und die Mutter wie Statuen auf dem Sofa sitzen. Ich sage nichts zu ihnen, und sie fragen nicht, wohin wir wollen. Ich habe keine Ahnung, wohin wir wollen. Aber als wir den mit Kies bestreuten Platz vor dem Haus betreten, sehe ich, dass ein kleiner Pfad durch den Apfelgarten aufwärts führt. Und als wir durch den Garten gegangen sind, zieht sich der Weg einen steilen Hang hoch, zu einer kleinen Felskuppe oberhalb der alten Villa. Dort steht eine Bank. Und vor meinem inneren Auge sehe ich dort den Lensmann Tharald Reine sitzen, vielleicht mitten in der Nacht. Oder in der Nacht vor einer unangenehmen Aufgabe, die er übernehmen muss. Anders als ein Polizist in einer Stadt hat Tharald Reine eine persönliche Beziehung zu allen hier, die irgendwann das norwegische Gesetz brechen können. Dem Mann, der seine Frau misshandelt. Der Frau, die in der Sparkasse Geld unterschlagen hat. Dem Großvater, der vielleicht, vielleicht auch nicht, an der Kleinen herumgefummelt hat. Es ist gut möglich, dass er und Tharald gemeinsam Kabeljau gefischt haben. Aber morgen müssen sie beide durch die Mangel. Da helfen keine Bitten.
    Jetzt Tom und ich. Wir haben unser Problem.
    Es ist eine ganz fantastische Aussicht, wie von allen Hügeln, Bergen und Kuppen auf dieser Insel. Das Meer. Die anderen Inseln, die auf der unruhigen Fläche verstreut liegen. Die Kutter mit den Schleppnetzen, die in der unruhigen See weitertuckern. Hinter einem stehen zwei Fischadler mitten im Schwarm der Möwen.
    Aber es hat keinen Sinn, ihm mit Adler und Möwe zu kommen. Das fühle ich ganz stark. Also erzähle ich ihm stattdessen, dass wir zwei, er und ich, zusammen den Oridongo-Strom hinauffahren werden. An Bord einer alten Fähre ohne Namen. Wir wollen bis zu den geheimen Quellen des Stroms fahren, wo kein Mensch je gewesen ist.
    Du musst versuchen, dir den Fischgeruch vorzustellen, Tom. Nein. Der ist nicht wie hier. Nicht wie unten am Anleger in Laugen oder drüben auf Binnøya. In Port St. Paul sind es mehr als vierzig Grad über null, und die Luft steht über den Bergen aus halb verfaultem Fisch einfach still. Der ekelerregende Geruch mischt sich mit den Ausdünstungen von Mensch und Tier, und von allem, was Menschen und Tiere ausscheiden und hinterlassen. Und es gibt viele von ihnen. Dicht an dicht Menschen aller Rassen und Farben, weiß, goldbraun, schwarz wie die Nacht. Wir stehen mitten im Gewimmel unten im Hafen unter der alten Festung, die die Portugiesen erbaut haben, als die Zulus sich zusammenrotteten und zum Aufruhr gegen König Oscar II. und seine Schreckensherrschaft aufriefen. Sie liegt dort oben unter dem kobaltblauen Himmel wie ein rotbrauner Grabstein, ein Denkmal für die europäische Kultur oder Unkultur, ganz wie man will, so viele haben so viele Ansichten über alles, was hier und anderswo auf der Welt geschehen ist. Aber hier stehen wir, mitten auf diesem chaotischen Markt, wo lebende Hühner und Ziegen verkauft werden, zusammen mit Säcken voller Gewürze, Pfeffer, Majado, Curry und Oregano, hier werden auch Menschen verkauft, das musst du dir klarmachen, und alles, was an Drogen und Waffen überhaupt vorstellbar ist, aber wir stehen hier und haben absolut keine Meinung dazu, was passiert ist oder noch passiert, wir stehen hier und halten einander an der Hand, während wir auf ein namenloses Boot warten, das den Strom hochkommen wird, den Oridongo hinauf, vom Meer her, um uns zu Orten und in Situationen zu bringen, von denen wir keine Ahnung haben. Wir stehen ganz still im Chaos und warten.
    Erinnerst du dich an Oberst Gambada? Jesus Maria Gambada? Lass es mich so sagen: Du warst dabei, ob du dich nun erinnerst oder nicht. In seinem Büro im ersten Stock über der alten Schlachthalle, wo die Tiere vor Todesangst schrien, wenn sie Blut und ihre eigene Zukunft rochen, und Oberst Gambada schrie und schrie mich an, und ich schwieg, ich bewahrte die Ruhe, weil ich dich spürte, weil ich wusste, dass du da warst und mich an den Ort begleiten würdest, den wir beide aufsuchen mussten. Den Oridongo hinauf. Die alten Seekarten

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