Den Oridongo hinauf (German Edition)
besten Jahren jählings weggerissen wird. Traurig und bedrückt, und voller mehr oder weniger unterdrücktem Weinen. Die Kapelle ist überfüllt, und draußen stehen ebenfalls noch kleine Gruppen von Menschen und hören sich Gunnar Pfaffs hilflosen Versuch an, sich am Bibeltext vorbeizuschummeln, der doch klar wie Bergluft ist, wenn es um das Thema Tod geht. Es ist Gottes Wille. Schluss, aus. Und wenn derselbe Gott noch dazu so sparsam mit Pastor Gunnar Larsens Rednergaben gewesen ist, wird das Ganze eine reichlich klägliche Angelegenheit. Aber kurz. Evelyn hält eine schöne Rede für ihren Mann, und die Kinder legen jedes eine weiße Rose auf den Sarg, das heißt, Tom bleibt mit seiner in der Hand stehen, der rechten, der Hammerhand, bis seine kleine Schwester ihm die Rose vorsichtig wegnimmt und sie neben ihre eigene auf den Sarg legt. Dann singen alle »Wir sind nur Gast auf Erden« und es ist vorüber. Evelyn sind gemeindeeigene Schnittchen und Kaffee im Gemeindehaus angeboten worden, was sie aus begreiflichen Gründen jedoch abgelehnt hat.
Jetzt wird sie ein neues Kapitel in ihrem Leben antreten, zusammen mit den Kindern im Holländerhaus.
Danach sprechen Berit und ich mit Robert. Wir gehen über den Strandweg, es ist schönes Wetter und Robert will zu Reinert nach Neset, um sich ein altes Kajak anzusehen. Fühle ich mich in dieser Situation zu hundert Prozent wohl in meiner Haut? Nein. In einem Anfall purer Verzweiflung habe ich früher an diesem Tag Berit gegenüber meinen Verdacht geäußert, ich habe gesagt, dass es mir missfällt, wenn sie und Robert allein in der Küche sind, während ich an Magnes Boot arbeite, und das Ergebnis war ein resigniertes kleines Lachen. Jetzt soll ich aber wirklich aufhören. Sie? Und Robert? Sie könnte doch seine Mutter sein! Na und? Wimmelt es nicht in der Geschichte der Menschheit von Beispielen dafür, dass gerade junge Männer und reife Frauen … Aber jetzt wird sie ganz einfach wütend. Knallt sogar mit der Tür. Das Ganze endet damit, dass ich um Verzeihung bitte, damit diese Sache während der Beerdigung nicht zwischen uns steht.
Und jetzt sind wir also zusammen hier unterwegs. Wessen Idee das war, weiß ich nicht. Nur, dass es nicht meine war. Ich habe das Gefühl, dass ich auf die Probe gestellt werde. Dass ich jetzt ganz brav beweisen muss, dass ich mich wie ein erwachsener Mann benehmen kann. Sonst.
Robert Lakseng ist engagiert. Ein wenig widerwillig muss ich zugeben, dass mir das die Sache leichter macht. Zumeist führt er das Wort. Er will versuchen, nach der normalen Schulzeit zusammen mit Evelyn für Tom eine Art Privatunterricht in die Wege zu leiten. Kann es helfen, dass die Mutter dabei ist und alles noch einmal erklärt – eben in der Muttersprache? Einen Versuch wäre es wert.
»Aber ich glaube, es ist sinnvoll, wenn du ihn tagsüber weiterhin begleitest, Ulf. Wenn du zwei Stunden bei ihm sein kannst. Er geht doch ganz bereitwillig mit dir?«
»Er geht bereitwillig mit allen«, sage ich. »Das ist nicht das Problem.«
»Du verstehst doch, was Robert meint«, sagt Berit. »Er darf jetzt nicht so viele Bezugspersonen haben. Und du kannst gut mit ihm umgehen. Das sehen wir doch.«
»Wenn Evelyn will«, sage ich.
»Sie will«, sagt Robert. »Ich habe mit ihr gesprochen. Sie sagt, dass sie sich wohler fühlt, wenn du dabei bist. Das mit der Katze hat ihr einen Schock versetzt.«
»Wie lange?«
Robert zuckt mit den schmalen Schultern. »Solange es sein muss. Wenn ich das richtig verstehe, dann haben wir keine Alternative. Tharald sieht das auch so. Das tun alle. Die Mutter kann ihn doch nicht in die Psychiatrie schicken. Und hier draußen können wir ihm nichts anderes anbieten als den Versuch, ihn nicht allein zu lassen. Natürlich gibt es irgendwo eine Grenze, aber wir brauchen noch nicht darüber zu diskutieren, wo diese Grenze verläuft.«
»Ich verstehe nicht, wo der Junge gewesen sein kann«, sagt Berit, und diesen Satz haben wir alle so viele tausend Mal wiederholt, dass weder Robert noch ich einen Grund zu einem Kommentar sehen.
Am nächsten Tag erzähle ich Tom, dass ich meinen Vater schon vor meiner Geburt verloren habe. Als ich noch im Bauch meiner Mutter gesteckt habe. Jetzt im Nachhinein habe ich mir mehr als einmal überlegt, dass es einen etwas seltsamen Eindruck gemacht hätte, wenn jemand, zum Beispiel Toms Mutter Evelyn, an diesem Vormittag die Tür des Jungenzimmers einen Spaltbreit geöffnet hätte. Wieder liegt hinter mir
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