Den Oridongo hinauf (German Edition)
unten auf dem Hofplatz stehen, mit einem meterlangen Stock in der Hand.
Und Knaben und Männer brauchen einen Stock, wenn sie über die Felder zum Strand gehen, sie brauchen einen Stock, weil er so gut in der Hand liegt, weil er das richtige Gewicht hat, sie brauchen den Stock, um dies und das umzudrehen, was auf ihrem Weg liegt, und weil er als Verlängerung der Hand und des Armes dient, wenn man etwas zeigen will. Schau mal. Dort draußen. Oder da. Am Waldrand. Ist das nicht Rødbergs Pferd, das da im Schatten herumlungert? Man kann verfaulenden Pilzen am Wegesrand den Kopf abschlagen. Einen Vogelkadaver auf den Rücken drehen. Oder einen Schaukampf abhalten. Fechten.
Also gehe ich in ein Gestrüpp und schneide mir einen Ebereschenast zurecht. An die anderthalb Meter lang, hat er hier im Wind gestanden und einen Millimeter an den anderen gereiht.
Aber jetzt kein Oridongo mehr. Ich spüre, dass das falsch wäre. Das kann ein Spiel für drinnen sein. Ein Spiel, das wir treiben, eben, um die inneren Bilder aufzubauen, ich kann ja nicht einmal wissen, ob sie einen günstigen Einfluss auf ihn haben. Ob nicht die Bilder, die er schon in sich hat, stärker und schärfer sind. Aber egal: Ich weiß, dass es gefährlich sein kann, ihn mit diesen Bildern allein zu lassen. Und hier, am Strand, gibt es die Bilder, die er doch am Ende in sich aufnehmen muss, wenn er sich nicht ganz und gar verlieren will. Übrigens steht nicht fest, dass es so schlimm ist, wie ich ab und zu befürchte. Er isst, was ihm vorgesetzt wird. Er geht von selbst aufs Klo und macht, was von ihm erwartet wird, ohne sich auf irgendeine Weise zu besudeln. An Bord eines namenlosen Schiffes habe ich mehr als einmal anderes gesehen. Aber gerade deshalb frage ich mich manchmal, ob er nicht doch eine Rolle spielt. Das Seltsame ist, dass mein eigenes Beispiel hier keine Hilfe ist. Ich weiß viel darüber, was in mir passiert ist, aber wenig darüber, was sich draußen zugetragen hat. Oder oben an der Oberfläche.
Unten am Strand biegen wir in Richtung Neset ab. Der fast weiße Sand liegt festgepackt zwischen den dunklen Streifen aus Felsen, die sich ins Meer hinausziehen. Dolden aus Tang, die die Flut angespült hat. Als ich sie umdrehe, als ich den Stock durch die trockene Oberfläche bohre und eine Dolde umwerfe, wimmelt und wogt es darunter vor Leben. Tangflöhe und etwas, das aussieht wie kleine Krabben. Das scheint er zu bemerken. Das bringt ihn dazu, für kurze Augenblicke konzentriert zu schauen.
Aber unternimmt er selbst ähnliche Manöver? Nein. Steht nur da und sieht sich alles an, den eigenen Stock passiv in der Hand.
Ich versuche, ihn auf das Vogelleben über uns aufmerksam zu machen, auf die dahintreibenden Wolken aus Möwen und Seevögeln, aber es bringt nichts. Es ist vielleicht zu weit weg, denke ich. Trotz des Geschreis und Gezeters. Oder vielleicht gerade deshalb.
Aber die Katze muss er ganz klar und deutlich gesehen haben, denke ich dann.
Angeblich hat er sie genau zwischen den Ohren getroffen, wenn auch kaum mit voller Kraft.
Miez ist angeblich seither gesehen worden, wenn auch nicht in der Nähe des Holländerhauses.
Als wir unten in Neset ankommen, sehen wir Reinert am Ende des Steges stehen und ins Meer pissen. Das ist so eine Angewohnheit von ihm. Wie viele Männer in seinem Alter hat er Probleme beim Wasserlassen, aber die Unruhe des Meeres erleichtert ihm den Start.
Das hat er mir nicht anvertraut, ich habe es beobachtet.
Jetzt sieht er Tom mit seinem scheuen Blick an. Nur selten schaut er Menschen direkt ins Gesicht, jetzt tut er das.
»Wir sind den ganzen Weg vom Holländerhaus gegangen«, sage ich. Und komme mir im selben Moment vor wie ein blöder Städter. Nichts, was mit physischer Anstrengung oder Wind und Wetter zu tun hat, macht auf Reinert Eindruck. Sonst übrigens auch nichts, wie mir scheint.
»Will er ins Boot?«, fragt er nach einer Weile. Das macht er ab und zu. Spricht andere in der dritten Person an. Ich bin hier zweifellos nicht gemeint.
»Kann schon sein, dass er das will«, sage ich, da Tom ja keine Antwort gibt.
Reinert geht an Bord des Kutters und fängt an, Fischkästen und Reusen auf den Steg zu werfen. Ich stapele und sortiere.
Als er fertig ist, hebe ich Tom an Deck und steige selbst hinterher. Ich kann sehen, wie seine Nasenflügel vibrieren. Es riecht hier harsch nach Fischfriedhof. Wir setzen uns auf die Bank beim Steuerhaus, und Reinert wirft den Motor an.
Nun erstarrt der Junge. Seine
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