Den Oridongo hinauf (German Edition)
Hand, noch immer in meiner, presst so, dass es fast wehtut, und ich denke an den Tag, an dem ich ihn gefunden habe.
In welchem Boot befindet er sich jetzt wohl?
Ist er auf dem Strom oder auf dem Meer?
Ich glaube nicht, dass ich fragen sollte. Ich sage nichts. Ist er übrigens warm genug angezogen? Reinert ist auch schon auf diesen Gedanken gekommen und bringt eine dicke Öljacke, übersät mit Flecken aus Fischblut und Öl. Als ich dem Jungen die Jacke überziehe, reicht sie ihm bis zu den Knien.
Es ist ein schöner Herbsttag, die Wolken jagen über den blauen Himmel. Ab und zu verschwindet die Sonne, um dann in Form von goldenen Fingern wieder aufzutauchen, die schräg hinunter auf das Inselreich zeigen. Dieser Anblick hat etwas Biblisches, geht mir auf. Als gäbe Gott sich hier zu erkennen. Ließe sich zum Meer sinken. Es gibt hier draußen zwischen Vaksøy und dem offenen Meer über dreitausend Felseninseln und Schären. Auf einzelnen liegen leere Häuser und Gehöfte, wie Denkmäler für eine längst vergangene Zeit. Ab und zu, oft unmittelbar vor dem Einschlafen oder gleich nach dem Aufwachen, stelle ich mir vor, ich wäre dort draußen. In leeren Zimmern, die der Wind mit seiner gewaltigen Kraft füllt. Ein vergessenes Spielzeug, das über den Boden gefegt wird, von Wand zu Wand, jahraus, jahrein. Lockere Tapetenreste, die hin und her schlagen, die diese Zimmer mit einer Art Gespensterrede füllen. In meinen Fantasien und Halbträumen laufe ich in diesen verlassenen Behausungen von Zimmer zu Zimmer oder sitze auf einem imaginären Stuhl und lasse den Wind durch mich durchwehen. Mich läutern.
Reinert lenkt uns an Skarven vorbei und weiter gen Norden. Wir werden heute nicht zu Fuß nach Hause gehen müssen, merke ich. Aber im Windschatten der drei Landholminseln, die auch als die »Heiligen Drei Könige« bekannt sind, legt er den Kutter gegen den Wind und greift zur Harpe. Er fischt selbst nicht damit, aber jetzt hat er Greenhorns zu Besuch. Ich zeige Tom die roten, gelben und grünen Gummistücke und die blanken Wurmhaken, ehe ich den Schwimmer im grünen Meer versinken lasse und Leine gebe. Es ist tief hier und in der Strömung zwischen den Inseln gibt es oft großen Seelachs und Kabeljau. Als ich die Leine wie eine Schlinge um seinen Zeigefinger lege, ist er für kurze Sekunden anwesend, ehe er wieder verschwimmt. Aber er hält fest, als ich ihm zeige, wie er den Arm über die Reling strecken soll. Ich kann ihn nicht dazu bringen, den Arm auf und ab zu bewegen, aber dennoch. Damit die Schnüre nicht durcheinandergeraten, werfe ich meine auf der anderen Seite des Bootes aus, befestige sie aber dort, für den Fall, dass bei Tom etwas anbeißt. Es ist unmöglich zu sagen, wie er reagieren würde.
Reinert lässt sich nichts anmerken. Er steht wieder im Steuerhaus und führt den Kutter langsam auf die Strömung zu. Die Selbstgedrehte steckt wie ein gelber Stöpsel zwischen seinen Zähnen. Ich kann hören, dass er das Radio eingeschaltet hat. Hilde Sotteng plaudert und spielt Lieder aus einer verschwundenen Zeit. Einar Rose. Die Bjørklund-Schwestern.
Nun kann man über die Fischerei hier oben an der Nordwestküste sagen, dass die ein wenig anders verläuft als in dem Teil des Landes, aus dem ich stamme. In unserer Satellitenstadt gab es nur wenig Seelachs und Schellfisch, abgesehen vom Fischtresen im Einkaufszentrum. Bei Mutter und mir gab es zudem vor allem Tiefkühlfilets und Fischstäbchen, ich verlor so leicht den Mut angesichts von Haut und Gräten, ja, ich wurde sogar jähzornig und ausagierend. Selber zu angeln war eine Aktivität, die für die kurzen Sommerwochen reserviert war, die Mutter und ich in Brunlanes verbrachten, bei meinen Großeltern. Da wurden Flundern, Kabeljau und Witting gefangen. Es kam auch vor, dass wir gar nichts bekamen, oder höchstens ein paar kleine Fische, die wir abends aufs Brot legten. Sorgfältig gesäubert von meinem Großvater.
Hier oben ist es etwas anderes, trotz der Weltuntergangsberichte über tote Meere und vom Aussterben bedrohte Arten. Hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert. In der ersten Zeit bei Berit in Viken habe ich mich darauf gefreut, die Kartoffeln aufzusetzen, um dann zum Steg zu gehen und das Essen mit der Angelrute aus dem Meer zu ziehen, während die Kartoffeln kochten.
Mit anderen Worten ist es nur eine Frage der Zeit, bis Tom etwas erleben wird, bei dem er wohl kaum gleichgültig bleiben kann.
Oder?
Jetzt schaut er träumend
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