Den Oridongo hinauf (German Edition)
eine fast schlaflose Nacht, und die macht sich jetzt bemerkbar. Als ich hereinkomme, sehe ich Tom am Schreibtisch vor dem Fenster sitzen, und die einzige Stelle, wo ich mich setzen kann, ist die Kante des ungemachten Bettes. Und als ich mich gesetzt habe, sinke ich ganz einfach um, es kommt absolut automatisch, ich bleibe auf dem Rücken liegen, ungefähr wie ein Klient auf der Couch eines Psychologen. Und dann erzähle ich diesem jungen Mitmenschen von meiner Sehnsucht nach meinem Vater. Dass Gott oder das Schicksal es mir gestattet haben, ihn schon am ersten Tag und seither an jedem einzelnen Tag zu vermissen.
Ehe ich mich unterbreche. Nachdem ich es gerade erst erwähnt habe.
Aber reagiert er? Nein. Er sitzt ganz still da und schaut aus dem Fenster. Halb von mir abgewandt.
Ich darf hier nicht schlafen, denke ich. Was würde das denn für einen Eindruck machen? Das geht nicht. Nicht im Bett des Jungen. Mit einer Kraftanstrengung setze ich mich also auf und gehe die Treppe zum Wohnzimmer hoch, wo ich Evelyn erkläre, dass ich total erschöpft bin. Dass ich meine Kräfte falsch eingeschätzt habe. Ob ich mich für einen kleinen Moment aufs Sofa legen darf?
Ich bin sofort weg. Schlafe fast eine Stunde lang traumlos, und als ich aufwache, sind nur Tom und ich im Zimmer. Er sitzt im Sessel auf der anderen Seite des Teakholztisches, mit diesem Blick, den ich jetzt langsam satt bekomme. Ja, der mich inzwischen wütend macht.
Spielt er ein Theater? Wie weit habe ich selbst Theater gespielt, wenn ich mich als Junge eingekapselt, Mutters Verzweiflung und Flehen ausgesperrt habe, bis sie am Ende wütend wurde und mir manchmal eine Ohrfeige verpasst hat?
War es eine Art bewusste Kapitulation?
Spüre ich jetzt die Wut meiner Mutter?
Ich will nicht so denken. Das sind nicht meine Gedanken. Es sind Gedanken aus dem Blauen Zimmer.
Und als wir endlich an Bord sind, Tom, da hören wir, wie die Maschinen im Bauch des Schiffes zu singen beginnen, wir spüren das Zittern der Schotten, als wir vom Kai ablegen. Wir gehen durch die engen Gänge, durch die vor uns schon so viele gegangen sind, und wir atmen diesen seltsamen Geruch von mit Schweiß und Angst vermischten Reinigungsmitteln ein, wir hören Lachen und wütende Rufe hinter den geschlossenen Türen auf beiden Seiten, aus den engen Kabinen, die alle gleich sind, ja, hier an Bord gibt es keine erste und zweite Klasse, es gibt nur eine perfekte Demokratie mit Klo und Pritsche in jeder Kabine, und dann fahren wir den Oridongo hinauf, durch den grünen dampfenden Dschungel, vielleicht den Regenwald, Tapire und Gürteltiere, rosa Delfine und fleischfressende Pflanzen und Insekten, und Trommeln, die in der Ferne erklingen, wann immer sich die Dunkelheit über uns senkt, rhythmisch, einschläfernd…
Und das passiert oft. Bald ist alles ein einziger Strom aus Tagen und Nächten, die ineinander übergehen, die Zeit scheint nicht mehr zu existieren, als spielten sich alle Gedanken und Ereignisse gleichzeitig ab, als paarten sich die Träume mit der Wirklichkeit, Fieberfantasien und glasklare Einblicke und Ausblicke, wir sind alle am Leben, Passagiere und Mannschaft, aber in einer Art dichtem Nebel, der von den Bänken auf beiden Seiten des Flusses hereinsickert, des Flusses, der durch uns selbst strömt.
Ich gebe ihm die hitzeflirrenden Tage oben an Deck, wo wir mit eiskalten Erfrischungsgetränken in der Hand das farbenprächtige Vogelleben des Dschungels betrachten, Papageien, die schwarzweißen Eisvögel, die Rosthabichte und Schlangenadler, die über dem dichten Laubwerk segeln, in dem die Affen spielen. Ich erzähle ihm von John Hallow, der einen Mann getötet hat, dort unten bei den großen Schleusen, wo die Buren Holzstämme über Land nach Travan und Silverlake geschleppt haben, harte Männer bei harter Arbeit, und ich erzähle von den fast nackten nubischen Frauen, die im Schatten des Steuerhauses dösen, ihre Kinder an der Brust, von lebenden Schweinen im Käfig und von Südseekönigen so schwarz wie die Nacht, mit Muskeln wie riesige Pythonschlangen und Zähnen aus weißem Eisen. Und ich erzähle von Kapitän Barak, dem Deutsch-Äthiopier, den niemand zu sehen bekommt, dem aber alle fast jede Nacht zuhören müssen, so weit die Reise geht, wenn er mit seinem mit einem Hufeisen beschlagenen Holzbein über Deck stampft.
Aber als ich die Augen aufschlage, ist Tom gegangen.
Er ist nicht oben in seinem Zimmer.
Als ich zum Fenster beim Schreibtisch gehe, sehe ich ihn
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