Den schnapp ich mir Roman
abbilden, was er sah, egal, welche Beziehung er zu seinen Objekten hatte. Anna war immer ein schlichter Typ mit sehr unauffälligen Zügen gewesen. Sie war vielleicht sehr sexy, aber der leichte Wahnsinn in ihrem Blick beeinträchtigte ihr Aussehen und ließ sie wie eine sehr launische Femme fatale wirken.
Doch er hätte sich die Sorgen sparen können, denn der wahre Grund für Annas Besuch wurde bald klar. Sie warf sich ihm buchstäblich an den Hals, denn plötzlich hatte sie
die Arme um seinen Nacken geschlungen und ihm die Zunge in den Mund geschoben. Ihre schlangengleichen Bewegungen ließen ihn erstarren. Schockiert hatte er den Skizzenblock fallen gelassen, als er erkannte, dass Anna ihn angelogen hatte. Ihre Mutter lag nicht im Sterben. Diese schreckliche Lüge war nur der Vorwand gewesen, in seine Nähe zu gelangen und sich ihm wieder einmal an den Hals zu werfen.
Einen Moment lang blieb er wie erstarrt, während ihre feuchten Lippen ihn bedrängten. Angeekelt starrte Tristan in ihre weit aufgerissenen Augen. Sie wirkte triumphierend. Dann drängte sie sich so grob und heftig an ihn, als wüsste sie nicht mehr, wo und wer sie war.
Das alles hatte ihn zutiefst erschüttert. Anna war krank, es gab keine andere Möglichkeit. So benahm sich kein normaler Mensch. Er wollte ihr ja helfen, denn er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er vielleicht für ihren völligen Wahnsinn verantwortlich sein würde. Aber was konnte er tun? Als sie ihm kindisch ins Ohr kicherte, sah Tristan keine andere Wahl mehr, als sie von sich zu stoßen. Er erinnerte sich noch, wie er sich mit der farbverschmierten Hand den Mund abgewischt hatte, um die letzten Reste ihrs Speichels zu entfernen. Er wollte selbst den letzten Hauch von ihr loswerden.
Dann begann Anna zu rasen, weil er sie erneut abgewiesen hatte, und griff ihn an. Fluchend und zischend war sie schließlich wie eine wahnsinnig gewordene Hexe aus dem Cottage geflohen. Danach hatte Tristan Anna nie wieder gesehen. Er hatte keine Ahnung, wo sie gelandet war, es kümmerte ihn auch nicht. Er hatte Wichtigeres zu tun, denn nach dieser Nacht hatte er auch Sophie nie wieder gesehen. Er war die ganze Nacht wachgeblieben, um das Porträt zu vollenden, und hatte dann mit müden, geröteten Augen auf sie gewartet … gewartet und gewartet, aber sie war nicht gekommen. Schließlich war er nach London
gefahren, um das Bild persönlich abzuliefern. Als weitere Zeit verstrich und er immer noch nichts von Sophie hörte, machte er sich große Sorgen. Hatte er in den ersten Tagen auch nur ein einziges Mal daran gedacht, dass sie ihn vielleicht verlassen hatte? Nein, niemals!
Erst später war ihm dieser Gedanke gekommen. Tage waren verstrichen, jede Minute einsamer und schrecklicher als die letzte. Er war völlig verdutzt gewesen, völlig hilflos. Nichts hatte mehr einen Sinn. Stundenlang ging er die letzten Gespräche mit Sophie wieder durch, auf der verzweifelten Suche nach einem Anhaltspunkt, der ihr Verschwinden erklären würde.
Will war damals seine große Stütze gewesen, dachte Tristan, während er mit tränenverschwommenen Augen über den See blickte. Er hatte ihm geholfen, indem er alle Krankenhäuser der Gegend anrief, um herauszufinden, ob Sophie vielleicht einen Unfall gehabt hatte. Will hatte spekuliert, dass sie vielleicht das Gedächtnis verloren hatte oder schwer verletzt war. Eine Krankenhausadresse nach der anderen hatte er im Telefonbuch ausgestrichen. Immer wieder hatte er Tristan versichert, wie sehr Sophie ihn liebte und dass sie ihn niemals verlassen würde. Tristan war im Dorf herumgerannt und hatte überall nach ihr gefragt. In der Kunstschule hatte er sich unbeliebt gemacht, weil er noch Monate nach ihrem Verschwinden immer wieder Flugblätter mit der Fotokopie von einem seiner Gemälde verteilt und um Informationen gebeten hatte.
Als bei all diesen Mühen nichts herauskam, hatte Will eine andere Taktik eingeschlagen. Wochenlang saßen die beiden bis spät in die Nacht zusammen und betranken sich. Er bot dem trauernden Tristan eine Schulter an, an der er sich ausheulen konnte. Als schließlich alles nichts fruchtete, hatte Will Tristan freundlich, aber bestimmt davon überzeugt, Sophies Verlust endlich zu akzeptieren.
Tristan war seinem Bruder unendlich dankbar dafür. Die ersten Tage ohne Sophie waren furchtbar gewesen, die ersten Wochen sogar von körperlichen Schmerzen begleitet. Er wusste nicht mehr, ob der Gedanke schlimmer war, dass sie irgenwo lebte,
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