Den Tod im Griffl - Numbers 3
Fiebermessen, Blutdruck, Augenreaktion auf Licht.
Ab und zu bekomme ich Spritzen. Dann verschwimmen die Wände des Raums, die Menschen um mich herum – die Schwestern, der Typ mit der Tweedjacke, der Typ mit der Narbe und der flimmernden Zahl – und die Matratze, auf der ich liege. Ich werde ganz benommen im Kopf, und noch bevor ich es merke, schlafe ich wieder ein.
Als ich diesmal aufwache, will ich nicht wieder einschlafen. Irgendwo zwischen Traum und Wachwerden wusste ich plötzlich, wem diese Stimme gehört.
Meiner Mum.
Ich höre sie immer noch. Ich sehe alles genau.
Sie war nur klein, aber Mann, sie war stark. Kein Dad, nur sie. Wir wohnten am Meer. Wir liefen den Strand entlang, kilometerweit. Ich jagte die Möwen. Es gab Eis und Eselreiten.
Jem Marsh. So hieß sie.
Und ich bin ihr Sohn. Adam.
Ich bin Adam.
Und von ihr hatte ich das mit den Zahlen. Auch sie konnte sie sehen, als sie heranwuchs. Sie verstand es und sie versuchte mir zu helfen, selbst als sie schon tot war. Ich spüre einen Stich direkt unter den Rippen, als mir klar wird, dass sie tot ist. Es ist, als würde ich sie zum ersten Mal verlieren. Ich habe mich gerade erst an sie erinnert und jetzt ist sie wieder tot. Meine Mum ist tot.
Die Worte, die ich gehört habe – dass ich niemandem etwas sagen darf –, hat sie nie gesagt. Sie hat sie in einem Brief geschrieben, den ich erst nach ihrem Tod bekam. Ich erinnere mich an jedes Wort darin und ich weiß noch, wer mir den Brief gab.
Oma.
Ich sehe auch sie. Wie sie in ihrem schäbigen Haus im Londoner Westen am Küchentisch hockte. Die Haare in einem lächerlich leuchtenden Lila. »Meine krönende Pracht« nannte sie das. Anfangs erschreckte sie mich zu Tode – ich hielt sie für meinen schlimmsten Albtraum. Doch ich liebte sie. Es juckt mir in der Nase, als ich den Rauch ihrer Zigarette einatme. Ich bin wahrscheinlich die letzte Raucherin in England, hatte sie einmal gesagt, starrsinnig und stolz.
Der Rauch trägt mich an einen anderen Ort …
Ich sitze an einem Feuer, mitten im Wald. Ich sitze in einem Kreis, einem Kreis von Freunden, und ich habe den Arm um ein Mädchen gelegt. Sie muss meine Freundin sein. Sie hat mir den Rücken halb zugewandt, mein Arm liegt um ihre Taille, mein Kinn ruht auf ihrem Kopf. Ich küsse ihre Haare und sie dreht ihr Gesicht zu mir hoch. Ich sehe ihre blauen, blauen Augen. Mein Gott, ich könnte mich in diesen Augen verlieren. Ihre Zahl hat etwas Schönes, ist nicht voller Trauer und Schrecken wie die meisten. Es ist ein beruhigendes Gefühl, wenn ich sie ansehe, als ob sie von Liebe durchflutet wäre.
Dieses Mädchen. Mein Mädchen. Wie heißt sie? Ist sie noch immer meine Freundin? Wo ist sie?
»Zeit für die nächste Spritze.«
Sie sind wieder da. Zwei Leute in weißen Kitteln.
Nein! Nicht jetzt. Noch nicht.
Ich versuche sie abzuwehren, aber ich habe keine Chance. Sie sind ganz bewusst zu zweit; einer, um mich niederzuhalten, und der andere, um die Nadel reinzustechen.
»Hast du ihn?«
»Ja. Aber beeil dich.«
Ich will die Spritze nicht. Ich will wach bleiben, an meinen Erinnerungen festhalten … an Mum, Oma, meiner Freundin …
Wo bin ich? Was passiert mit mir?
SARAH
Ich sehe sie nicht. Ich hab sie verloren. Sie ist weg.
Ich habe Mia an diesem kalten, einsamen Ort verloren. Ich schreie ihren Namen, immer wieder, bis meine Kehle heiser ist. Meine Stimme wird vom Nebel verschluckt, von den Bäumen und Steinen gehalten.
»Mia! Mia!«
Wie konnte ich sie bloß aus den Augen lassen? Ich habe nur eine Sekunde weggeschaut, schon war sie fort. Der Kies knirscht unter meinen Füßen. Ich verlasse den Weg und laufe zwischen den Gräbern hindurch, um sie herum und über sie hinweg, bis mich der Schmerz wieder stoppt und ich stehen bleiben, mich an einem Stein festhalten muss, die Augen schließe und versuche durchzuatmen.
Wenn ich die Augen wieder öffne, wird sie hier sein. Sie wird mich anlächeln und mir die Arme entgegenstrecken, um sich knuddeln zu lassen.
Ich öffne die Augen. Sie ist nicht da.
»Mummy! Mum-my!«
Mia rüttelt mich an der Schulter.
»Was? Was ist los?«
»Mummy schreit.«
»Wirklich? Hab ich dich aufgeweckt?«
Der Ort hier ist stockfinster. Ich weiß nicht, wo wir sind, ob es Nacht oder Tag ist. Mir fehlt der modrige Geruch unseres Zelts und es weht auch kein Wind. Die Luft steht vollkommen still. Aber Mia ist hier. Und gerade jetzt scheint mir das ganz schrecklich wichtig. Ich erinnere mich nicht mehr an
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