Den Tod vor Augen - Numbers 2
dran, doch stattdessen hör ich mich fragen: »Wo wohnst du?«
»Churchill House.«
Ich schau ihn wieder an und ich stürze, der Boden unter den Füßen ist plötzlich weg und ich falle tiefer, tiefer ins Dunkel. Es gibt nichts zum Festhalten und ich werde von allen Seiten zerschrammt und zerschlagen – von Mauersteinen, Zimmerdecken, Wänden, alles wild durcheinander.
»Adam?«
»Ja.«
»Bist du okay? Du hast mich so … angestarrt.«
»Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid. Passiert mir manchmal. Kann ich anscheinend nicht abstellen.«
Sein halbes Lächeln geht an und aus. Zuck, zuck, zuck. Er hebt die Hand an sein Gesicht.
»Dann bis morgen«, sagt er, »es sei denn, du bleibst. Geht heute immer noch um Infinitesimalrechnung.«
»Nein, ist schon okay. Bis morgen.« Ich schwing mir die Tasche auf den Rücken und verlasse das Klassenzimmer, doch ein Teil von mir, ein großer Teil, würde am liebsten bleiben. Wenn ich klug genug wäre, wenn ich bleiben könnte, ohne mich dumm zu fühlen, wäre es schön, sich hier aufzuhalten, wo es in Ordnung ist, anders zu sein. Wenigstens für eine Stunde.
Draußen gehören alle zu irgendwelchen Gruppen und Gangs. Unterhalten sich zu zweit oder dritt, größere Gruppen spielen Fußball oder Basketball. Anders zu sein, ist nicht gerade der Hit.
Ich finde eine stillere Ecke, schaue, ob niemand guckt, und ziehe mein Notizbuch raus, trage Nelsons Details ein. Ich will, dass es mich beruhigt, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich spüre, wie Panik in mir hochkommt – ich kann sie nicht aufhalten. Er ist ein anständiger Junge, so einer, der noch nie jemandem etwas getan hat. Warum muss er so früh sterben? Das ist nicht fair. Das ist nicht richtig. Er hat nur noch knapp drei Monate zu leben, mehr nicht. Ich vielleicht auch.
Als ich mein Notizbuch anschaue, scheint es, als ob mir die Tode darin entgegenschreien, brüllen, um gehört zu werden. Die Zukunft dieser Stadt liegt in meinen Händen – eine entsetzliche, schreckliche, brutale Zukunft. All die Gefühle, diese Stimmen, diese letzten qualvollen Schreie, sie sind in meinem Innern, in meinen Ohren, hinter meinen Augen, in meiner Lunge. Das ist zu viel. Ich werde platzen. Das Buch noch immer umklammernd, führe ich die Hände an meinen Kopf, fasse mit aller Kraft zu, die Augen fest geschlossen. Ich versuche diese Atem-Geschichte – durch die Nase ein und aus durch den Mund –, aber meine Kehle ist so eng, dass nichts durchkommt, und der Lärm in meinem Kopf ist so laut, dass ich mich selbst nicht mehr denken höre. Ich kann die Worte nicht hören.
»Was machst du, Spinner?«
Ich kenne die Stimme. Ich öffne die Augen, nur ein Stück. Vor mir stehen vier Paar Füße, vier Leute, ganz nah. Ich muss nicht aufsehen, um zu wissen, wer es ist. Ich muss nicht die Zahl sehen, um die Gewalt zu spüren, das Blut zu schmecken. Es ist Junior mit seinen Kumpeln.
»Was machst du hier, Spasti? Was ist das für ein Buch?«
SARAH
Ich lebe hier in der Vergangenheit. So muss es früher gewesen sein, als es noch keine Handys, Computer und MP5-Player gab. Ich habe noch mein Handy und das schrottige Palm-Teil, das man von der Schule kriegt, aber ich darf sie nicht nutzen, weil man mich darüber orten kann, und ich will nicht gefunden werden.
Vinny und seine Kumpel interessieren sich nicht für Elektronik, bis auf einen antiken CD-Player und einen alten Fernseher. Ich kümmere mich nicht mal um den Fernseher. Wann immer man ihn anschaltet, laufen nur freakige Shows, Wiederholungen trostloser Sitcoms, die schon beim ersten Mal nicht lustig waren, oder Nachrichten. Und wer will schon Nachrichten sehen? Überall Kriege, die eine Hälfte der Welt überflutet, die andere stirbt vor Durst. Ich kann nichts davon ändern, was nützt es also, Bescheid zu wissen? Das letzte Mal, als ich Nachrichten geschaut habe, hatten sie gerade den Eurotunnel gesperrt, um die Massen von Migranten aus Afrika zu stoppen. Bei uns gibt es Überflutungen, Stromausfälle, Unruhen … wenn sie trotzdem kommen wollen, dann sollen sie doch, finde ich. Sie werden schnell merken, dass es hier längst nicht so toll ist, wie die Leute meinen.
Vielleicht sollten mehr Menschen so leben wie wir. Man könnte meinen, ich vermisse, was ich alles hatte. Vornehmes Haus, Heimkino und Fitnessraum. Das Einzige, was ich tatsächlich vermisse, ist der Pool, weil mein Bauch langsam riesig wird. Er zieht nach unten, wenn ich herumlaufe, und nur, wenn ich in der Badewanne liege,
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