Den Tod vor Augen - Numbers 2
wär’s mit einem schlauen Schüler – es gibt doch Leute, die so was lieben, Computer, Zahlen, Statistiken.
In den nächsten paar Tagen schaue ich mich nach jemandem um, der mir helfen könnte. Allerdings müsste ich dazu die Regeln brechen. Du darfst es niemandem sagen. Niemandem. Nie.
Ich drucke die Datei aus, allerdings nur die Orte und Todesdaten, nichts weiter.
Ich entschließe mich, dorthin zu gehen, wo sich die Streber aufhalten. Am schwarzen Brett habe ich gelesen, dass sich in der Mittagspause ein Mathe-Club trifft, also gehe ich dahin. Als ich den Klassenraum betrete, ist es wie in einem Wildwest-Saloon. Alle hören plötzlich auf mit dem, was sie gerade machen, und schauen hoch, sogar die Lehrerin. Sie ist ziemlich jung, trägt T-Shirt und einen langen Rock im Hippie-Stil.
»Hallo«, sagt sie. Sie lächelt, ich lächle zurück, ohne zu überlegen, und schaue ihr in die Augen. Sie ist eine Achtundzwanzigerin. Langsam verlier ich die Nerven. Ich muss dran denken, die Menschen nicht anzusehen. Es wird schon so schwer genug.
»Hi«, sage ich.
»Kommst du rein?«
»Ähm … weiß nicht. Glaub ja.«
»Wir machen heute Infinitesimalrechnung.«
Infini-was?
»Ach so. Ähm … dann bin ich wohl doch falsch. Tut mir leid.« Ich gehe rücklings aus dem Raum. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Da saß genügend geballte Intelligenz rum, um das ganze Land zu versorgen.
Am nächsten Tag versuch ich’s noch einmal.
»Ja?«, fragt die Lehrerin.
»Ich brauche Hilfe bei einem Problem.« Einige Schüler fangen an zu kichern. »Einem Matheproblem.«
»Dann solltest du mit deinem Mathematiklehrer darüber reden«, sagt sie. »Bei wem bist du?«
»Nein«, sage ich. »Es hat nichts mit Schule zu tun, es ist was anderes.«
Ich lege den Ausdruck auf den Tisch.
»Ich habe hier jede Menge Daten und Orte und ich möchte sie sichtbar machen, sehen, wo was passiert.«
Alle versammeln sich um den Tisch.
»Was ist das? Die Datumsangaben.«
Ich habe versucht mir eine gute Lüge zurechtzulegen, etwas, das sie bestimmt glauben werden.
»Geburtstage. Es sind Geburtstage von Leuten. Ich hab sie gesammelt.«
»Warum? Wieso machst du das?«, fragt ein Junge mit Nickelbrille. Ich hab auf einmal das Gefühl, mich verteidigen zu müssen, und glaube, dass alle gleich so machen – Finger an die Schläfe und drehen. Aber das passiert nicht.
»Interessiert mich einfach, es gibt keinen richtigen Grund.«
Sie scheinen es zu akzeptieren und ich kapiere, dass ich in einem Raum bin, wo es normal ist, Fakten und Zahlen zu sammeln. Wahrscheinlich tun das alle.
»Hast du die Postleitzahlen dazu?«, fragt der Nickelbrillen-Typ. Er hat so ein nervöses Zucken um die Mundwinkel, das immer wieder zu einer Art halbem Lächeln führt.
Ich schüttle den Kopf und reiche ihm meinen Ausdruck.
»Du hast also nur Namen von Straßen und Plätzen. Idealerweise bräuchten wir Postleitzahlen. Ich kann sie im Online-Adressbuch nachgucken, wenn du mir Hausnummern nennst. Dann ist es nicht schwer, das Ganze auf einer Karte abzubilden. Ich würde sagen, statt Zahlen nehmen wir unterschiedliche Farben für die verschiedenen Datumsangaben. Auf diese Weise wird jedes Muster sofort sichtbar.«
Die andern verziehen sich, aber Nickel-Boy scheint dabei zu sein.
»Wohnen die Leute dort? Sind das ihre Adressen?«
»Nein«, antworte ich, »das ist der Ort, wo ich sie … gesehen habe.«
»Auf der Straße? Du hast sie befragt?«
»Ja … so ungefähr.«
»Hm, schade, dass du sie nicht nach der Postleitzahl gefragt hast …«
Langsam geht er mir auf die Nerven. Okay, dann hab ich es eben nicht richtig gemacht. Ich bin doch kein Marktforscher. Aber ich halte den Deckel drauf. Schließlich brauch ich ihn ja.
»Und, hilfst du mir?«
»Ja, aber ich brauche genauere Angaben.«
Ich spüre, wie mir das Herz in die Hose rutscht bei dem Gedanken, wieder loszuziehen und Menschen zu erfassen. Ich weiß nicht, ob ich das noch mal schaffe.
»Ich kann ja mal sehen, was sich mit dem hier anfangen lässt.« Er schlenkert das Blatt in meine Richtung. »Wenn ich es mit nach Hause nehmen darf.«
»Klar«, sage ich. »Danke … äh …«
»Nelson.«
»Danke, Nelson. Ich heiß übrigens Adam.«
»Schon okay. Mich interessiert das.« Ich kann nichts dafür, dass ich ihn ansehe und mir die Freude vergeht. Seine Zahl: 01012028. Er wird seinen eigenen Tod dokumentieren.
Ich will ihm das Blatt wieder wegschnappen, es zurücknehmen. Die Sache ist zu dicht an ihm
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