Den Tod vor Augen - Numbers 2
London wurden alle Anträge für die Zeit nach dem 30. Dezember abgelehnt. Das läuft auf die Silvesternacht hinaus, Adam. Die müssen echt Angst haben, wenn sie Silvesterpartys absagen.«
»Die Regierung weiß …?«
»Sieht so aus. Sobald auf einer Website 0101 erscheint, wird sie geschlossen. Deshalb war ich eben so überrascht, dass das Bild von diesem Micah noch da ist.«
Eigentlich sollte ich doch froh sein. Froh, dass ich nicht verrückt bin. Froh, dass andere etwas über den 1. wissen. Dass ich nicht allein bin. Aber das Einzige, was ich spüre, ist Panik. Alle Nervenenden zittern, mein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft. Es ist wahr. Es kommt.
»Es gibt auch etwas, das noch dichter an der Sache dran ist. Falls die Seite noch existiert. Ich hab sie abgespeichert … hier.« Er ruft eine weitere Internetseite auf und schiebt den Laptop zu mir rüber. Zuerst begreife ich nicht, was er mir zeigen will. Der Bildschirm ist von einem Bild ausgefüllt, irgendetwas Gemaltem.
»Du musst nach links und rechts scrollen, damit du alles sehen kannst.«
Es sieht aus wie ein Kriegsschauplatz: Dunkelheit, Chaos, ein Himmel voller Rauch, Hände, die sich aus dem Schutt recken, klaffende Löcher, wo eigentlich Häuser sein sollten.
Ich scrolle nach rechts. Dort steht ein Datum, wie ein Banner oben am Bildrand: 1. Januar 2028. Und dann verwandeln sich die Schwarz-, Grau- und Brauntöne in Rot, Gelb und Orange, als Flammen über den Bildschirm lecken. Nelson schaut nicht auf den Bildschirm, er beobachtet meine Reaktion. Ich scrolle weiter und jetzt kommen Gesichter, verzerrt von Schmerz und Angst. Ich sehe ein Baby mit zusammengekniffenen Augen, Tränen sprühen aus seinem Gesicht und ein Mann hält das Baby, ein Schwarzer. Die Flammen spiegeln sich in seinen Augen, doch es sind nicht die Augen, die mich vor Schreck erstarren lassen, es ist sein Gesicht. Die Haut ist narbig und uneben.
Das bin ich.
Der Typ auf dem Bild bin ich.
Der mit den Flammen in den Augen bin ich.
Ich kämpfe gegen den Drang, mich zu übergeben. Ich versuche den Rauchgestank nicht wahrzunehmen, das wütende Knistern der Flammen nicht zu hören.
»Was ist das?« Oma tritt heran und blickt mir über die Schulter. Der Rauch aus dem Ende der Zigarette kräuselt mir ins Gesicht und ich muss husten. Sie wedelt ihn von mir weg, doch zu spät. Ich bin wieder dort, hilflos, als sich das Feuer in mich hineinfrisst. Ich huste mir die Lunge aus dem Leib. Ich bekomme keine Luft mehr.
Ich schwanke zur Haustür. Draußen beuge ich mich nach vorn, huste und würge über Omas Zwergensammlung, bis ich mich schließlich erbreche.
»Adam! Adam! Alles in Ordnung! Pass auf Norris auf. Er ist mein Prachtstück. O Gott, du hast ihn erwischt.«
Oma steht neben mir und schaut, während ich alles aus meinem Magen herausspeie. Dann, nach einem letzten Krampf, entspannt sich mein Körper allmählich. Kühle Nachtluft flutet in meine Lunge, Stück für Stück löse ich mich aus der gebeugten Haltung und richte mich wieder auf. Wir stehen noch eine Weile da, ich atme ein und aus und erinnere mich daran, was es heißt, sich wie ein Mensch zu fühlen, während Oma über ihre Gartenfiguren den Kopf schüttelt.
Als wir wieder hineingehen, packt Nelson gerade seinen Laptop ein.
»Wo war das, das Bild?«, frage ich ihn.
»Paddington, in der Bahnunterführung, direkt an der Westbourne Park Road.«
»Ich muss hin, mir das ansehen.« Allein der Gedanke verursacht mir weiche Knie.
»Nelson?«
»Ja?«
»Du solltest London verlassen. Du musst von hier verschwinden.«
»Was? Und meine Mum und meine Brüder? Wo sollen wir denn hin?«
»Keine Ahnung, egal. Hauptsache, es liegt irgendwo außerhalb der Karte.«
Er schüttelt den Kopf.
»Ich kann es versuchen. Aber was soll ich ihnen sagen? Wie bring ich sie dazu, dass sie mitkommen?«
»Keine Ahnung. Das ist die Millionen-Dollar-Frage, und wenn ich die Antwort wüsste, würde ich sie über sämtliche Medien im ganzen Land verbreiten. Verlasst alle die Stadt. Verschwindet aus London.«
Oma sieht mich auf einmal an und hat ein Leuchten in den Augen.
»Das klingt doch schon besser«, sagt sie. »Das nenn ich die richtige Haltung!«
»O-ma …« Sie sieht mich wieder so an, als ob ich der Messias wäre.
»Du kannst das, Adam. Du kannst Menschen retten.«
Nelson schaut kurz zu mir, dann zu ihr und wieder zurück. Wenn ich er wäre, würde ich schnellstens verschwinden und mich nicht noch mal umdrehen. Aber ich bin
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