Den Tod vor Augen - Numbers 2
Hause käme.
Der Mauerstein unter meiner Haut lebt. Ich spüre es in meinen Fingern; es summt in meinen Ohren und steigt durch meine Fußsohlen hoch. Ich höre wieder Geräusche, das Schreien, die Flammen, die emporzüngeln, ein tiefes Grollen, das immer lauter wird. Auf einmal erfüllt es meinen ganzen Kopf. Ich halte stand, doch ich kneife die Augen fest zu. Das Zittern und der Lärm werden zu ein und demselben, sie bauen sich auf, um mich herum und in meinem Innern. Es sind Flammen zu sehen und Gesichter, verzerrt, entstellt, in Panik.
Ich öffne den Mund und schreie. Es ist derselbe Laut, den ich von mir gegeben habe, als ich ins Feuer stürzte, ein Tierlaut, der aus mir hervordringt. Die Unterführung besteht nicht mehr aus Mauersteinen, sie ist eine wilde, lebendige, brüllende Bestie, ein lebender Albtraum. Mein Schrei setzt sich fort, bis ich keine Luft mehr habe.
Ich hole Atem, schrei weiter.
Das Rumpeln und Poltern erstirbt und auf einmal bin ich allein mit meiner Stimme, die von den Wänden widerhallt, und dem Donnern eines Expresszugs, das sich zu einem Hintergrundsummen verliert. Dann nichts mehr.
Ich trete von der Wand zurück und öffne die Augen. Ich weiß nicht, was gerade mit mir passiert ist: wie viel davon real war. Meine Hände erfrieren. Ich reibe sie gegeneinander, dann halt ich sie mir an den Mund und hauche sie an. Das Licht an beiden Enden der Unterführung ist grau, Regen fällt schräg darüber hinweg. Meine Augen spielen verrückt, verwirrt von dem Gemälde vor mir, so nah in dem Dunkel, und von dem Licht draußen, deshalb brauche ich eine Weile, bis ich erkenne, dass jemand am anderen Ende der Unterführung steht, nicht geht, sondern einfach nur dasteht.
Ich sehe nur die Silhouette: schlabberige Hose, eine Art Jacke und spitz aufragendes Haar. Und auf einmal begreife ich, wie einsam und von allem abgeschnitten dieser Ort ist.
Scheiße. Gleich werd ich zusammengeschlagen.
Stress brauche ich nicht, deshalb mache ich mich in die andere Richtung auf. Bleib cool. Zeig nicht, dass du unsicher bist. Als ich draußen bin, drehe ich mich noch mal um, weil ich wissen will, ob ich verfolgt werde. Der Typ steht noch da, beobachtet mich. Ich zwinge mich, anzuhalten und zurückzuschauen. Wir stehen beide im Regen, schauen uns an. Und dann stellen sich plötzlich meine Nackenhaare auf. Wir stehen weit voneinander entfernt, doch unsere Blicke treffen sich und ich spüre einen warmen Schauer.
Es ist überhaupt kein Junge, es ist ein Mädchen. Das Mädchen, das mich so hasst, das Mädchen, dessen Atem mich noch umgibt, wenn sie sich in fünfzig Jahren verabschiedet.
Sarah.
SARAH
Ich sehe ihn, bevor er mich sieht. Das Merkwürdige ist, dass ich irgendwie schon weiß, er wird da sein, noch bevor ich um die Ecke biege. Es ist keine völlige Überraschung. Und ich frage mich, wieso bin ich diesen Weg gegangen? Es regnet und es ist kürzer, durch die Siedlung zu gehen, um zu dem Laden zu kommen, als hintenrum, doch ich bin diesen Weg gegangen.
Als ich ihn leibhaftig sehe – in echt, nicht das Bild in meinem Kopf, an der Wand –, bekomme ich eine Gänsehaut. Ich habe Angst vor ihm. Aber ich bin auch erregt. Verdammt, was ist los mit mir?
Ich sollte umkehren, bevor er mich sieht. Umkehren und weggehen. Nein, rennen. Er ist der Junge aus meinem Albtraum. Der Junge aus meiner Zukunft, der mein Baby nimmt und ins Feuer geht. Er ist böse, wieso also steh ich noch hier?
ADAM
»Sarah!«
Sie rührt sich nicht, deshalb gehe ich auf sie zu. Ich schaffe zehn Meter, dann reagiert sie.
»Bleib stehen. Komm keinen Schritt näher.«
Sie klingt unsicher.
»Ich will doch nur mit dir reden.«
»Ich hab dir nichts zu sagen.«
»Das warst du, stimmt’s? Du hast mich da hingemalt. Wieso hast du mich auf die Wand gemalt?«
»Das weißt du doch. Du weißt, was du tust.« Ihre Stimme ist gedämpft und leise, aber ich höre das Gift darin. Sie hasst mich. Sie glaubt, ich bin widerlich.
»Nein! Ich weiß gar nichts!«
Ich gehe einen Schritt auf sie zu, sie weicht zurück, beugt sich hinab und hebt einen Stein auf.
»Komm keinen Schritt näher.«
»Sarah, ich weiß nicht, was ich gemacht habe. Ich habe dir nichts getan. Ich versteh’s nicht. Aber ich weiß über den Neujahrstag Bescheid.«
Jetzt hört sie zu, so richtig zu.
»Was weißt du?«
»Ich sehe sie auch, die Zahlen der Menschen. Es gibt Hunderte, Tausende mit dem Datum vom 1., 2. oder 3. Januar. Es ist etwas Gewaltiges, Sarah, etwas
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