Den Tod vor Augen - Numbers 2
doch bloß nicht ins Krankenhaus gebracht hätte. Wenn sie ihr das Teil nicht gespritzt hätten, könnten wir verschwinden. Zumindest hätten wir dann eine Chance.
Wenn sie den Chip nicht hätte.
Er sitzt sicher nur unter der Oberfläche. Ich habe ein paar Scheren in meinem Kulturbeutel … Mia hört einen Moment auf zu trinken, legt eine Verschnaufpause ein. Ihre Hand taucht aus meinem Mantel auf, ihre winzigen rosa Finger suchen nach etwas zum Festhalten. Ihre Haut ist so dünn, fast durchscheinend. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, die Haut aufzuschneiden, darunter zu graben, um diesen verdammten Chip zu finden? Damit bin ich ja schon fast auf IHR Niveau gesunken. Ich bin über mich selbst entsetzt.
Ich stecke ihre Hand wieder in meinen Mantel zurück und halte sie noch fester. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich werde dir nie wehtun und ich werde nicht zulassen, dass sie dich mir wegnehmen. Niemals.
Ein Windstoß wirbelt irgendwelchen Müll auf und bläst ihn in die Unterführung, dass er über den Schotter und den Backstein scheuert. Ich beobachte, wie eine Essensverpackung auf mich zutanzt. Dann schaue ich über sie hinweg. Da ist jemand.
ADAM
Es ist jemand dort. Auf dem Boden, in der Unterführung.
Die Unterführung ist weiß gestrichen worden: Das Bild, der Albtraum, das Datum, alles ist übermalt. Es ist noch immer dunkel im Tunnel, doch ich erkenne, dass sie es ist. Sarah.
Ich bin zu dem Haus gegangen, wo sie wohnte. Ich wollte nicht klopfen oder sonst was. Ich weiß gar nicht, was ich dort eigentlich wollte, einfach nur warten, nehme ich an, keine Ahnung. Wie auch immer, ich kam jedenfalls nur bis zur Straßenecke, denn vor dem Haus standen ein Lieferwagen und drei Polizeiautos. Heiliger Strohsack! Sie waren eindeutig in Sarahs Haus, denn ich sah, wie ihr dürrer Freund abgeführt wurde – die Hände gefesselt auf dem Rücken. Ich duckte mich weg, bevor mich jemand entdeckte. Solche Probleme konnte ich jetzt nicht gebrauchen, aber deshalb wusste ich natürlich nicht, ob auch Sarah verhaftet worden war.
Ich lief umher und natürlich landete ich irgendwann vor der Unterführung. Ich wusste, dass es so kommen würde, und da ist sie auf einmal. Hat mich Arschloch genannt, als ich sie das letzte Mal sah. Hat einen Stein nach mir geworfen, als wir das letzte Mal hier waren. Ich sollte umkehren und verschwinden, doch ich kann nicht. Ich kann mich nicht von ihr fernhalten. Ich geh auf sie zu, langsam, aber stetig, damit sie Zeit hat, mich zu erkennen, Zeit, abzuhauen, wenn sie das will. Sie rührt sich nicht. Sie sitzt noch immer am Boden, als ich sie erreiche.
Es ist ein unangenehmes Gefühl. Ich stehe, sie sitzt, deshalb gehe ich ein Stück von ihr weg in die Hocke. Sie drückt das Baby an sich und auf einmal kapier ich: Sie stillt. Es ist nichts zu sehen, nur das Baby, das in ihrem Mantel steckt, aber ich werde trotzdem rot vor Scham. Mir wird ganz heiß überall.
Sie schaut zu Boden, hat die Kapuze hochgezogen, übers Gesicht. Ich möchte, dass sie mich ansieht. Ich möchte wieder ihre Zahl sehen. Ich möchte dieses Gefühl erleben.
»Sarah«, sage ich.
Sie hält den Blick nach unten fixiert. Tut so, als ob ich nicht da wäre. Ich kann ihre Körpersprache deuten. Ich bin nicht doof. Sie will, dass ich gehe. Aber das werde ich nicht. Ich kann nicht.
»Sarah, ich bin’s.«
Keine Reaktion.
»Ich hab euer Haus gesehen, die Polizei.«
Nichts. Ich weiß nicht, was ich als Nächstes sagen soll. Bevor ich überhaupt weiß, was ich tue, spreche ich aus, was mir gerade einfällt.
»Hast du das gespürt? Das Erdbeben?«
Da sieht sie auf und ihre Zahl erzeugt in mir diesen warmen Rausch. Sie schaut verwirrt.
»Was für ein Erdbeben?«
»Ein Beben, vor etwa einer Stunde. Ich war in der Oxford Street. Alle haben sich niedergekauert, danach haben sie gelacht, als ob nichts gewesen wäre, aber es war eindeutig ein Beben.«
»Ich hab nichts gespürt. Vor einer Stunde war ich hier. Ich hab nichts davon gemerkt.«
»Ich erfinde das nicht.«
»Sag ich ja auch nicht.«
Sie ist abweisend. Das hab ich erwartet, aber sie ist auch unglücklich. Ich möchte die Hand nach ihr ausstrecken. Ich möchte ihre Blockaden überwinden.
»Was ist passiert?«, frage ich. »Was ist mit dir passiert?«
Sie sieht wieder zu Boden, aber wenigstens redet sie.
»Ich hatte Besuch vom Sozialamt. Sie haben mich gefunden.«
»Mist.«
»Es ist mehr als das, Adam. Sie werden sie mir wegnehmen. Sie ist alles, was ich
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