Den Tod vor Augen - Numbers 2
fort von all diesen Menschen. Es schnürt mir die Kehle zu.
Atme langsam. Ein durch die Nase und aus durch den Mund.
Überall um mich herum Körper, sie drängen von allen Seiten. Die Luft erreicht meine Lunge nicht mehr. Sie bleibt mir im Hals stecken. Meine Brust hebt sich.
Ein durch die Nase.
Ich kann’s nicht. Alles beginnt sich zu drehen, die Gebäude, die Gesichter.
Schau nach unten, schau nach unten.
Selbst der Bürgersteig bewegt sich, zittert unter meinen Füßen. Ich fall auf die Knie, dann brech ich in Panik aus. Ich werde hier niedergetrampelt werden, auf dem Boden zerquetscht.
Nur dass ich nicht der Einzige am Boden bin. Überall um mich herum kauern und knien die Menschen und halten sich aneinander fest. Alle sind plötzlich am Boden. Die Frau mit der Einkaufstüte schreit.
»O mein Gott!«
Dann hört es auf. Bevor es richtig angefangen hat. Keine Bewegung, kein Zittern, alles ist, wie es sein soll. Langsam stehen die Menschen wieder auf.
»Was war das?«
»Boah!«
Keine Schreie mehr, nur noch nervöses Lachen. Alle sind okay. Es war nur ein Beben. Nichts passiert. Etwas, wovon die Leute erzählen können, wenn sie nach Hause kommen.
Ich bleibe noch einen Moment am Boden, atme langsam, ein und aus, ein und aus, bis ich sicher bin, dass alles okay ist. Dann stehe ich auf und schaue mich um. Nirgends ein Zeichen, dass es passiert ist. Die Gebäude sind in Ordnung, keine Risse in den Fenstern, keine heruntergefallenen Schilder. Alle ringsum sind wohlauf, geschüttelt, aber nicht gerührt.
Ich stehe noch immer da, während die Oxford Street um mich herum zur Normalität zurückfindet. Das Blut pumpt jetzt durch meine Adern, ich habe überall Gänsehaut.
Das ist es. So fängt es an.
Ich sollte in Gedanken bei Oma sein, mich fragen, ob sie es in Kilburn auch gespürt hat, ob sie aufgewacht ist. Aber in meinem Kopf ist nicht Oma, sondern das Mädchen, dessen Albträume allmählich wahr werden. Wenn sie es auch gespürt hat, wird sie genauso erschrocken sein wie ich.
Sarah.
SARAH
Ich weiß nicht, wohin. Es regnet so scheiße stark, dass ich nicht geradeaus denken kann. Ich muss Mia vor dem Regen schützen, das ist alles, deshalb gehe ich hierhin, in die Unterführung. Wenigstens ist es dort trocken und ich habe fast das Gefühl, als ob der Ort mir gehört – ich habe so viel Zeit dort verbracht. Doch als ich ankomme, muss ich zweimal hingucken. Alles ist viel heller, leuchtender. Dann erst merke ich, was passiert ist: Jemand hat mein Wandbild übermalt. Auf der gesamten Länge des Tunnels ist alles weiß. Es riecht auch nach Farbe, so als ob es gerade erst gemacht worden sei.
Auf einmal habe ich nicht mehr das Gefühl, dass es mein Ort ist. Es ist einfach bloß eine Unterführung unter den Gleisen, ein trostloser Ort. Ich will hier nicht bleiben, aber wo soll ich sonst hin? Wenigstens zehn Minuten, um alles in meinem Kopf zu ordnen. Aber zehn Minuten werden zu zwanzig und dann muss Mia gefüttert werden, deshalb läuft es darauf hinaus, dass ich im Freien kampiere, auf einer der Plastiktüten am Boden sitze und mich gegen die Wand lehne. Ich kann nicht glauben, dass es vorbei ist – mein Leben bei Vinny. Ich habe bis jetzt gar nicht begriffen, was ich dort hatte. Ein Zuhause. Mias allererstes Zuhause.
Das hier ist jedenfalls kein Versteck, und wenn ich Mia die Brust gebe, kann ich mich nirgendwo zurückziehen. Ich bin eine leichte Beute. Ich schaue von einem Ende der Unterführung zum andern, halte Ausschau nach Autos, halte Ausschau nach Menschen. Aber was ist, wenn ich jemanden sehe? Es gibt nichts, wo ich hinrennen könnte.
Ich schaue auf Mia hinab. Sie steckt in ihrem gefütterten Strampler, ihr Kopf unter meinem Mantel, nur ihr Hintern und ihre Beine schauen heraus. Sie verschränkt sanft ihre Füße. Das ist die Stelle, wo sie ihr den Chip unter die Haut gespritzt haben: der linke Fuß. Da sitzt er jetzt drin, unsichtbar, stumm, so winzig, dass er durch eine Nadel passt. Mir wird schlecht bei dem Gedanken. Dieses Ding in meinem Baby, das aktiv ist, lebendig, mit IHNEN kommuniziert, diesen Arschlöchern, die ihr das Teil verpasst haben. Vielleicht spüren sie uns genau jetzt auf; irgendwo in einem Büro in London, Neu-Delhi oder Hongkong – Mia könnte als Punkt auf einem Bildschirm erscheinen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns aufgreifen werden. Und dann? Werden sie uns eine Bleibe suchen, wo wir wohnen können? Uns nach Hause schicken? Uns trennen?
Wenn ich sie
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