Den Tod vor Augen - Numbers 2
habe.«
»Das können sie doch nicht einfach so tun.«
»Doch, sie können. Und sie werden. Ich habe in einem besetzten Haus gewohnt, mit Drogenabhängigen, einem Dealer. Sieht nicht gut aus. Und jetzt hab ich nichts mehr, wo ich hinkann. Also, fürchte ich, werde ich wohl auf der Straße leben.«
»Du könntest zurück nach Hause.«
Mia muss aufgehört haben zu trinken, denn Sarah hebt sie an ihre Schulter und bemüht sich danach, auf die Beine zu kommen. Ich versuche ihr die Hand zu reichen, um ihr zu helfen, aber sie ignoriert sie. Sie legt das Baby in den Kinderwagen.
»Tschüss, Adam«, sagt sie und macht sich auf den Weg, als ob sie es wirklich meint.
Aber so einfach lass ich mich nicht abschütteln. Ich versuche doch nur, ihr zu helfen, verdammt.
»Ich wollte ja bloß sagen … es gibt was, wo du hinkannst, was das Sozialamt akzeptieren würde.« Aber bevor ich die Worte ganz ausgesprochen habe, erinnere ich mich daran, wie ihr Dad mich gegen die Wand gedrückt hat. »Sarah, es tut mir leid.«
Ich renne, um sie einzuholen.
»Hör zu, es tut mir leid«, sage ich. »Ich kann verstehen, dass du nicht zurückwillst. Dein Dad …«
Sie bleibt stehen und wirbelt herum.
»Was ist mit meinem Dad?«
»Er ist … er ist ein bisschen durch den Wind, stimmt’s?«
»Hast du ihn getroffen?« Sie starrt mich an.
»Ja. Ich … ich bin vorbeigegangen. Als du nicht mehr zur Schule kamst.«
»Verdammt, was bist du eigentlich? Eine Art Stalker? Okay, dann treibst du mich jetzt also auch noch ganz offiziell in den Wahnsinn, als wenn ich nicht schon wahnsinnig genug wär.«
Sie marschiert wieder los, schnell, richtig schnell.
Ich laufe neben ihr her.
»Sarah, ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Ich bin nur vorbeigegangen, um zu sehen, ob du okay bist.«
»Man sollte aber nicht einfach bei andern Leuten vorbeigehen. Es sei denn, sie haben dich eingeladen.«
»Was hätt ich denn tun sollen? Du hast mich gemalt, Sarah, du hast mich gezeichnet.«
»Es war nur ein Bild. Alle haben damals gezeichnet.«
»Es war nicht einfach irgendein Bild, das weißt du genau. Niemand hat mich je so angeschaut, mich so gesehen.«
Sie zieht die Schultern hoch, beugt sich vor und schiebt den Kinderwagen noch schneller. Wind und Regen prasseln noch immer auf uns ein. Ich brülle fast, um mich verständlich zu machen.
»Sarah, du hast dich über den Tisch gebeugt und mich berührt. Mein Gesicht berührt. Das konnte ich einfach nicht mehr vergessen.«
Sie dreht sich im Laufen zu mir um.
»Das hättest du aber besser«, brüllt sie zurück. »Ich kann nicht in deiner Nähe sein. Ich muss meine Tochter schützen. Es spielt keine Rolle, was ich für dich empfinde. Du darfst nicht in ihrer Nähe sein. Ich darf das nicht zulassen.«
Was ich empfinde. Was ich empfinde …
»Warte mal. Bitte, nur einen Moment!«
Ich lege ihr meine Hand auf die Schulter und versuche, sie dazu zu bringen, dass sie stehen bleibt. Sie zuckt weg.
»Fass mich nicht an! Lass los! Du hast gesagt, wir könnten die Zukunft verändern. Ja, genau das tue ich. Ich glaube, du wirst meinem Baby wehtun, deshalb will ich dich nie wiedersehen. Ich versuche, die Dinge zu ändern, Adam. Ich versuch es auf meine Art.«
»Ich würde ihr nie wehtun. Niemals, Sarah.«
»Woher willst du das wissen? Das kannst du gar nicht. Du siehst die Zukunft voraus, aber du kennst nur einen Teil davon. Verschwinde, Adam. Halt dich fern. Lass uns in Ruhe.«
Ich werde langsamer und bleibe stehen.
»Wohin gehst du?«, rufe ich hinter ihr her.
»Keine Ahnung. Irgendwohin, wo ich sicher bin.«
Sie jagt von mir fort. Ich werde sie nie wiedersehen. Und plötzlich ist diese Vorstellung schlimmer als die, dass mir ganz London um die Ohren fliegt. Es fühlt sich an, als ob es das Schlimmste sei, was mir passieren kann. Ich muss sie aufhalten.
»Sarah!«, rufe ich. »Ich weiß das mit deinem Dad.«
Es stimmt nicht. Ich improvisiere, aber ich trau meinem Bauchgefühl.
Sie bleibt wieder stehen und dreht sich um. Ich hole sie ein.
»Er hat dich vergewaltigt, deshalb kannst du nicht nach Hause zurück.«
Sie schaut von mir weg, schluckt schwer.
»Das ist es, nicht?«, sage ich. »Er hat dich missbraucht.«
Es regnet so stark, dass ihr das Wasser von der Nasenspitze tropft.
»Ja, ja, das hat er«, sagt sie, mehr zu sich selbst. Sie wirft mir einen kurzen Blick zu, testet meine Reaktion. Es ist verrückt – sie wirkt schuldig, als hätte sie etwas Falsches getan und ich sie dabei
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