Den Tod vor Augen - Numbers 2
dienen heute als Tee-Ersatz.
»Oma, ich glaube, er weiß was, dieser Taylor-Futzi.«
»Er weiß was? «
»Er hat dir nicht zugehört, jedenfalls nicht so richtig, bis du das Datum genannt hast. Da ist er auf einmal hellwach geworden.«
»Aber gesagt hat er nichts.«
»Nein, das würde er auch nie tun. Nicht gegenüber Leuten wie uns.«
»Glaubst du, er wird etwas unternehmen, Adam?«
»Eher nicht. Er hat sich ziemlich klar ausgedrückt, dass wir den Mund halten sollen, um die Leute nicht in Panik zu versetzen. Ich nehme an, dass er absolut gar nichts unternehmen wird. Er hat keine Ahnung, wie schlimm es wird, Oma. Ich hab es ihm versucht zu erklären …«
»Ich weiß. Wir haben es beide versucht. Das Ende ihrer Zigarette ist ein glühender roter Punkt in der dunklen Küche. «Was immer passiert, wir haben das Richtige getan. Wir haben alle Kanäle genutzt.»
»Aber das reicht nicht, Oma. Wir müssen mehr tun.«
»Na, du hast ja noch deinen kleinen Freund auf die Sache angesetzt, wie heißt er noch?«
»Nelson. Stimmt. Ich frage mich, wie er vorankommt.«
Wir versinken in Schweigen. Nach einer Weile sagt Oma: »Tut mir leid, Schatz, ich halt das nicht länger aus. Mir wird kalt. Ich geh ins Bett.« Sie nimmt sich eine der Kerzen und geht nach oben. Ich drücke die Taste meiner Digitaluhr, um das Display aufleuchten zu lassen: 18.32 Uhr. Ich kann doch unmöglich um halb sieben ins Bett gehen! Aber ich kann genauso wenig rumsitzen und nichts tun.
Ich denke noch mal über unsere Fahrt zur Stadtverwaltung nach. Ich hätte mehr sagen sollen, ihn dazu bringen müssen , mir zuzuhören. Aber wie bringt man in einer Stadt wie London jemanden dazu, zuzuhören? Wenn ich noch in Weston wohnte, könnte ich irgendwas am Strand machen, eine riesige Botschaft in den Sand schreiben oder am Pier ein Spruchband aufhängen, damit es jeder sieht. Wieso kann ich das hier nicht auch? Draußen in aller Öffentlichkeit etwas tun?
Der Wind schlägt gegen das Fenster – es klingt übel da draußen – doch ich kann nicht länger still sitzen. Ich muss was tun. Ich nehme die Kerze und trage sie durchs Wohnzimmer. Im Flur blase ich sie aus und stell sie auf den Boden. Ich überlege, ob ich Oma Bescheid sagen soll, dass ich noch mal rausgeh, doch sie schnarcht schon. Ich werde zurück sein, bevor sie überhaupt merkt, dass ich weg war.
Draußen bilden die Autoscheinwerfer einen Lichtstrom in der Dunkelheit. Die Busse fahren noch, und als einer im Verkehr herankriecht, laufe ich vor zur nächsten Haltestelle und winke, dass ich mitwill. Ich ziehe meine Karte durch den Schlitz und suche mir einen Platz. Wir rollen zehn, zwanzig, dreißig Minuten dahin – ganz West-London ist dunkel.
Ich zieh die Kapuze nach vorn und schließ die Augen. Ich weiß nicht, wohin ich fahre, und es interessiert mich auch nicht wirklich. Das Geräusch des Motors, der Regen, der gegen das Fenster spritzt, das Husten der anderen Fahrgäste – alles lullt mich in eine Art Schlaf. Ich werde wach gerüttelt, als der Bus zitternd zum Stehen kommt. Ich schlage die Augen auf. Alle anderen schlängeln sich hinaus. Ich stehe auf und stolpere nach vorn. Wir sind an der Endhaltestelle, am Marble Arch, wo der Bus nicht mehr weiterfährt. Das Monument selbst ist hell erleuchtet und die Weihnachtsbeleuchtung glitzert über der Oxford Street, so weit ich schauen kann. Die Bürgersteige sind voll, die Leute drängeln und schieben auf diese typisch Londoner Weise. Es ist, als ob ich auf einem anderen Planeten gelandet wäre. Oma hatte Recht, wir hätten hierher fahren, uns in ein Café setzen und heile Welt spielen sollen.
Ich laufe durch die Massen der spätabendlichen Schnäppchenjäger auf der Oxford Street. Ich lasse die Kapuze oben und den Kopf gesenkt. Ich will ihre Zahlen nicht sehen. Ich möchte mich zugehörig fühlen, irgendwo sein, wo man nicht das Gefühl hat, dass in Kürze alles zusammenbricht. Ein paar Minuten kann ich mir vormachen, dass alles in Ordnung ist, London so weitermacht wie bisher, die Leute arbeiten und einkaufen, essen gehen und einen Drink nehmen, in die Theater am West End strömen oder zum Schlussverkauf in die Läden.
Die Einkaufstüte einer Frau schlägt gegen mein Bein.
»Entschuldigung«, sagt sie.
Instinktiv schaue ich hoch. Sie ist eine Achtundzwanzigerin. Sie hat noch vier Tage zu leben. Auf einmal kehrt alles wieder zurück und die Straße wird zu dem schrecklichsten Ort, an dem ich mich aufhalten kann. Ich muss weg hier,
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