Den Tod vor Augen - Numbers 2
halten uns sechs Stunden lang auf dem Platz fest. Niemand darf rein oder raus. Pinkeln muss man wohl oder übel dort, wo man gerade steht. Frauen hocken sich hin, während ihre Freunde eine Barriere um sie herum bilden. Wir bitten um Wasser: Sie bringen keins. Wir bitten darum, gehen zu dürfen, ruhig, ohne Aufhebens: Sie erklären uns, dass wir zu unserer eigenen Sicherheit festgehalten werden.
Von Zeit zu Zeit rastet jemand aus. Die Leute fangen an zu streiten oder versuchen, sich einen Weg durch die Wand aus Schilden zu rempeln. Sie werden genauso behandelt wie ich – Schlagstöcke und Stiefel gehen auf sie nieder, bis sie am Boden liegen – danach steht die Wand sofort wieder.
Sobald sich die Kameras von mir lösen, versuche ich, mit den Leuten zu reden, immer nur mit einem oder zweien gleichzeitig. Das Problem ist, ich mag sie. Früher hätte ich überhaupt keine Notiz von ihnen genommen oder mich höchstens über sie lustig gemacht – langhaarige Hippies, die glauben, die Welt verändern zu können. Doch als ich ihnen zuhöre, merke ich, dass sie über vieles nachdenken, über die wichtigen Dinge – die Zukunft unseres Planeten, Menschen, die in anderen Ländern verhungern oder tyrannisiert werden. Sie machen sich Gedanken. Es ist, als ob ich mein ganzes Leben mit geschlossenen Augen gelebt hätte.
Viele von ihnen sind für den 1. Januar bestimmt. Ich sage ihnen, dass sie verschwinden müssen. Ich gehe durch die Menge und führe wieder und wieder die gleiche Unterhaltung.
»Raus aus London? Wir können nicht mal aus dem Grosvenor Square raus.«
»Ja, aber wenn das vorbei ist, danach. Geht nach Hause, packt ein paar Sachen und verschwindet.«
»Wieso sagst du das?«
»Ich sehe es. Ich sehe die Zukunft, Mann.«
Sie wissen nicht, was sie von mir halten sollen. Einige sind freundlich – sie denken, ich bin verrückt und dass ich sie in Ruhe lasse, wenn sie nett zu mir sind. Andere schütteln bloß den Kopf und warten, dass ich weitergehe.
»Versprecht mir«, sage ich, »versprecht mir, dass ihr London verlasst.« Ein paar Leute tun es. Ich habe sie verängstigt, nehme ich an, oder sie machen sich über mich lustig. Doch als ich von einem zum andern gehe, weiß ich irgendwie schon vorher, wer sagen wird, dass er geht – und keiner von ihnen ist ein Achtundzwanziger. Allmählich werde ich fast besessen. Ich muss unbedingt einen Achtundzwanziger finden, der sagt, er geht. Aber wie sehr ich es auch versuche, es gelingt mir nicht. Es wird allmählich frustrierend und ich fürchte, ich werde nervös. Ich sehe, dass ich die Leute gegen mich aufbringe, doch ich kann einfach nicht aufhören. Schließlich stoppt mich jemand auf meinem Weg.
Ich rede mit einer Frau. Sie ist schön, in den Zwanzigern, und sie hat nur noch etwas mehr als eine Woche zu leben.
»Kommen Sie«, sage ich. »Sie müssen mir versprechen, dass Sie gehen. Es ist nur noch wenige Tage Zeit. Sie müssen sich in Sicherheit bringen. Viele Menschen werden hier sterben, wissen Sie das?«
Sie will keinen Blickkontakt, schaut die ganze Zeit von mir weg in die Menge. Plötzlich tritt jemand dazwischen, ein massiger Kerl, der etliche Zentimeter größer ist als ich und kein einziges Haar auf dem Kopf hat.
»Sie will nicht mit dir reden, kapiert? Lass sie in Ruhe. Du machst ihr Angst. Es ist schon so schlimm genug, da musst du nicht auch noch die Leute belästigen. Warum hältst du nicht einfach mal die Klappe und gönnst allen eine Pause?«
An einem andern Tag, irgendwo anders, hätte ich mich ihm vielleicht entgegengestellt. Aber für heute habe ich genug Prügel kassiert.
»Es geht ja nur um Leben und Tod, das ist alles«, sage ich und hebe kapitulierend die Hände. »Ich versuche bloß, Leben zu retten.« Dann wende ich mich von den beiden ab und schaue durch die Menge auf die Schilde, die uns gefangen halten.
Es ist ein langes Warten, bis sie uns endlich ziehen lassen. Manche der Eingezingelten setzen sich irgendwann auf den Boden, obwohl sie wissen, dass das Nasse Pisse ist, kein Wasser. Das Reden wird allmählich weniger, bis Hunderte von uns, vielleicht sogar Tausende nur noch schweigend dasitzen und warten.
Am Ende gibt es kein großes Drama. Ein paar Minuten nachdem es richtig dunkel geworden ist, zieht die Polizei einfach ab. Ohne Durchsage, ohne Anweisungen. In der einen Minute stehen sie noch da, in der nächsten marschieren sie die Seitenstraßen entlang zu ihren Einsatzwagen.
Ich schaue mich um. Leute kommen erschöpft
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