Den Tod vor Augen - Numbers 2
brauchen? Das ist das Allergrausamste.
Ich gleite von den Schwellen hinab, rolle mich zu einer Kugel zusammen, drücke die Knie an mich. Ich zittere heftig, doch ich merke es kaum. Der Schmerz in meinem Körper zählt nicht. Es ist der Schmerz im Kopf, der mich umbringen wird – ihr Verlust, ihre Abwesenheit, ihr Nicht-Dasein ist schlimmer als alles, was ich je an Schmerz erfahren habe.
Mir wird so kalt, dass ich aufhöre zu zittern. Mein Körper ist ruhig und steif. Ich sollte mich bewegen, irgendwo hingehen, wo es geschützter ist und ich ein bisschen Wärme bekomme. Oder ich sollte durch die Nacht laufen, Arme und Beine in Bewegung halten, das Blut kreisen lassen. Aber das habe ich jetzt hinter mir, diesen Moment, als ich noch etwas gesunden Menschenverstand besaß, mich zwingen konnte, aufzustehen – die Kälte hat alles eingefroren –, jetzt sitz ich hier fest.
Meine Arme liegen über Kreuz vor der Brust. Die eine Hand ruht auf dem Hals. Ich spüre den Puls dort, aber er ist nur noch schwach und langsam. Ich sollte mich bewegen: Ich kann nicht. Ich sollte mich aufsetzen: Der Boden lässt es nicht zu. Ich sollte um Hilfe schreien: Meine Kehle ist trocken und voller Staub. Der Puls an den Fingern wird langsamer und langsamer. Wenn ich ihn zählen kann, ist er noch da, aber ich weiß die Reihenfolge der Zahlen nicht mehr. Ich erinnere mich nicht mehr …
ADAM
Es geht schneller, am Kanal entlangzulaufen. Der Weg ist kürzer und es gibt dort nicht so viele Menschen, nicht um diese Zeit. Ich bin den ganzen Weg gerannt, das Adrenalin pumpt noch immer in den Adern. Manche Teile des Pfads erkennt man im Licht der Gebäude, die am Rand emporragen, doch das meiste liegt im Dunkeln, deshalb sehe ich immer nur wenige Meter voraus.
Ich bin gerade auf einem dunkleren Abschnitt, kurz vor dem Weg, der zur Hauptstraße und nach Hause führt. Irgendwas liegt am Boden, ein Stück weiter vorn, ein Kleiderhaufen vielleicht. Dann erkenne ich einen Fuß und ein paar Zentimeter bleiches Bein zwischen Schuh und Saum einer Hose. Es würgt mich. Was ist das? Vermutlich eine Kleiderpuppe, irgendwas aus einem Schaufenster, das jemand am Kanal weggeworfen hat. Gott, ist das gruselig.
Ich merke, dass ich aufgehört habe zu rennen. Ich bin stehen geblieben. Ich möchte nicht näher an das Ding ran. Es treibt mich in den Wahnsinn.
Sei nicht albern, sage ich mir. Es ist Plastik, eine Puppe, nichts weiter.
Ich zwinge mich weiterzugehen. Aber das Ding wirkt so echt. Als ich näher komme, erkenn ich die Arme, den Kopf. Eine Hand ruht an der Kieferpartie und verbirgt einen Teil des Gesichts. Das Ding hat nur ein T-Shirt an, so dass man beinahe die ganzen Arme sehen kann. Das Plastik sieht blass und glatt aus, fast weiß.
Es würgt mich noch einmal. Eine Schaufensterpuppe kann sich unmöglich so zusammenkauern. Sie kann keine derartige Form bilden. Meine Eingeweide verknoten sich. Es ist ein Körper. Ich habe eine Leiche gefunden. Scheiße! Ich geh noch einen Schritt näher, bis ich direkt davorstehe. Der halbe Kopf ist rasiert, nur ein Borstenstreifen läuft über den Schädel.
»Sarah?« Ich würge an dem Wort, als es aus meiner Kehle kommt.
Das Ding, es ist Sarah. Sie ist allein an diesem dunklen, kalten Ort. Nirgends ein Zeichen von Mia.
Sie kann nicht tot sein. Ihre Zahl lautet 25072076. Zahlen ändern sich nicht. Oder doch? Ist sie der Beweis, dass sie es doch können?
Ich gehe neben ihr in die Hocke und berühre ihre Hand. Sie ist eiskalt. Ich nehme sie von ihrem Gesicht, halte sie fest zwischen meinen, dann führe ich sie an meinen Mund. Ich küsse die Finger.
»Sarah. Sarah.« Ich sage ihren Namen, immer und immer wieder. Mein Atem ist wie Rauch in der dunklen Luft, fädelt sich zwischen ihren Fingern hindurch. Ich starre ihr Gesicht an – mit den geschlossenen Augen wirkt sie so jung. Ich starre und starre, bis meine Augen verrücktspielen. Tränen schießen und Sarahs Mund wird verschwommen. Ich blinzle, die Tränen laufen mir übers Gesicht, so dass ich wieder klar sehen kann, doch ihr Mund ist noch immer verschleiert, als ob ihn ein Dunst umgibt.
Es ist ein Dunst! Scheiße! Ich lege ihre Hand vorsichtig ab und beuge mich vor. Ich halte meine Finger dicht an ihre Lippen und spüre den warmen Atem, der von ihnen ausgeht. Ich reiß mir die Jacke vom Leib und lege sie über ihren Körper. Ich fummle nach dem Handy in meiner Tasche und wähle den Notruf. Nichts. Dann seh ich, das Zeichen für den Akku flackert und
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