Den Tod vor Augen - Numbers 2
auf die Beine. Sie sind wütend über die Art, wie sie behandelt wurden, doch sie sind zu müde und kaputt, um sich lautstark darüber zu beschweren, sie murmeln nur vor sich hin. Meine Beine sind jenseits von steif. Als ich aufstehe, habe ich das Gefühl, sie geben gleich nach. Ich verlagere mein Gewicht vom einen Bein auf das andere und versuche alles, dass das Blut wieder strömt, während es an den Fußsohlen prickelt und sticht wie Nadeln.
Ich schlurfe vom Platz und geh Richtung Bushaltestelle. Erst als die Schlange in den Bus steigt und ich als Übernächster dran bin, fasse ich in meine Tasche und stelle fest, dass sie absolut leer ist – kein Portemonnaie, keine aufladbare Karte für den Londoner Nahverkehr. Irgendwann in den letzten sechs Stunden hat mich offenbar einer dieser netten, moralischen Rettet-die-Welt-Typen beklaut. Ich habe nur noch mein Handy und ungefähr fünfundzwanzig Cent. Doch wen soll ich anrufen? Oma? Sie kann mich nicht von hier abholen – ich werde wohl oder übel zu Fuß gehen müssen.
Ich suche noch mal meine Taschen ab, aber es findet sich nichts, was von Nutzen wäre, und ich halte die Schlange auf. Die Leute hinter mir machen schon ts, ts, ts. Dann drängt sich jemand an mir vorbei und ich werde aus dem Weg gestoßen. Diesmal verspüre ich keinen Drang, um mich zu schlagen. Es wäre sinnlos und mir fehlt auch die Energie. Alle sind müde. Es war ein langer Tag und sie wollen nach Hause. Genau wie ich. Ich verlasse die Haltestelle und mache mich auf den Weg. Es ist weit, aber ich denke gar nicht erst drüber nach, sondern setze einfach nur einen Fuß vor den andern, den Kopf gesenkt, laufe durch Straßen und über Grünflächen, an Ladenreihen vorbei. Das Einzige, was ich wahrnehme, sind Gehwegplatten und Beton, Füße und Beine. Aus diesem Grund verpasse ich fast das Entscheidende. Ein Wunder, das Einzige, was am Ende dieses langen, langen Tages ein Lächeln in mein Gesicht zaubern kann.
Ich komme an eine Stelle, wo sich die Füße nicht weiterbewegen. Eine Menge versammelt sich auf dem Gehweg. Ich muss hochschauen, um mir einen Weg hindurchzubahnen. Und plötzlich sehe ich, was sie zum Stillstand gebracht hat. Eine Botschaft zuckt über den öffentlichen Info-Bildschirm oberhalb einer Ladenreihe. DRINGENDE WARNUNG: VERLASSEN SIE LONDON SOFORT. Und dann noch eine: VERLASSEN SIE LONDON SOFORT. WICHTIGE STÖRFALL-WARNUNG: VERLASSEN SIE LONDON.
»Oh, mein Gott, er hat es geschafft!« Ich möchte am liebsten mit der Faust in die Luft schlagen, doch stattdessen schaue ich auf die Gesichter in der Menge. Die Leute sind verwirrt, haben Angst.
Dann fängt das Handy in meiner Tasche an zu vibrieren. Eine SMS. Ich ziehe es raus und auf dem Display steht dasselbe. Die Botschaft auf dem öffentlichen Bildschirm wurde auch auf mein Handy übertragen. Das Gleiche passiert bei allen andern um mich herum. Überall auf der Straße schauen die Menschen auf ihre Handys und dann auf die großen Bildschirme.
Ich wähle Nelsons Nummer, doch es kommt nur der Anrufbeantworter. Die Erregung sprüht förmlich aus meiner Stimme, als ich ihm eine Nachricht hinterlasse.
»Nelson, danke! Du hast es geschafft. Ich weiß nicht wie, aber du hast es geschafft. Danke, Mann. Pass auf dich auf.«
Die Menschen machen sich langsam auf. Manche fangen an zu rennen, schieben andere aus dem Weg. Ich war todmüde, als ich den Grosvenor Square verließ, doch jetzt lauf ich auf Hochtouren. Ich fange an zu rennen. Ich werde nach Hause laufen, meine Sachen packen und dann sind Oma und ich noch heute Nacht aus der Stadt.
SARAH
Ich war bescheuert, meinen Mantel wegzuwerfen. So bescheuert. Ich frier mich hier draußen zu Tode. Und es gibt nichts mehr, wofür ich leben mag. Sie haben Mia – und sie werden sie nicht zurückgeben. Sie wird jetzt irgendwo schön zugedeckt in einem hübschen, sauberen Bettchen in einem hübschen, sauberen Haus bei einer Pflegemum und einem Pflegedad liegen und Muttermilchersatz aus der Flasche trinken.
Es ist das Einzige, was mich beschäftigt. Natürlich will ich, dass Mia es warm hat, sie in Sicherheit ist und umsorgt wird. Sie sollte natürlich bei mir sein, aber wenn nicht, dann soll sie es so gut haben, wie es nur geht. Doch der Gedanke, dass sie Milch aus der Flasche bekommt, bringt mich um. Ich habe sie von Anfang an gestillt. Es ist unser Ding, unsere Verbindung. Jetzt ist sie weg.
Wie konnten sie das tun? Wie konnten sie mir Mia wegnehmen, wo wir uns beide doch körperlich
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