Denen man nicht vergibt
ist’s zu spät, Nick.« Er hob den Finger und berührte sanft das Pflaster auf ihrer Schusswunde. »Darum geht’s doch. Milton hat versagt, also wird es der Kerl, der ihn angeheuert hat, noch mal versuchen, darauf kannst du wetten. Du brauchst mich, wenn schon sonst nicht, so zumindest als Beschützer.«
»Ach, das ist alles so beschissen«, seufzte sie. »Einfach Scheiße.«
»Ich weiß. Aber wir kümmern uns darum. Vertrau mir. He, Scheiße ist mein Leben. Ich werde dafür bezahlt, dass ich die Scheiße wegräume. Das motiviert mich.«
Sie schwieg. Aber sie bewegte sich auch nicht und wehrte sich nicht, als er sie fester in die Arme nahm. Dane war ein Fels in der Brandung, nicht nur körperlich, auch charakterlich. Auf diesen Mann konnte man sich unbedingt verlassen. Wenn der mal sein Wort gab, konnte man darauf bauen.
Sie dachte an Vater Michael Joseph und daran, wie gleich die beiden aussahen, aber Vater Michael Joseph war tot. Sie wusste, dass Dane mit diesem Verlust allein war, dass er jede Stunde, jeden Tag damit fertig werden musste. Und hier war sie und lehnte sich an ihn, und er tröstete sie. Wen hatte er zum Anlehnen?
»Es geht schon«, sagte sie und machte sich widerwillig von ihm los. Sie blickte zu ihm auf und legte ihre Hand an seine Wange. »Sie sind ein achtenswerter Mann, Dane. Das mit Ihrem Bruder tut mir sehr Leid.«
Seine Züge verschlossen sich, wurden ausdruckslos. Er wollte die Fassung nicht verlieren.
»Ich wäre Ihnen dankbar«, sagte sie, erhob sich und strich sich den Pulli glatt, den er ihr letzten Freitag gekauft hatte, einen hübschen roten V-Pulli, den sie über einer weißen Bluse trug, »wenn Sie nicht versuchen würden, rauszufinden, mit wem ich telefoniert habe.«
Sie las in seinen Augen, dass er nicht beim Empfang nachfragen würde. Nun, zumindest war er bereit, ihr ein wenig Leine zu lassen. Er sagte: »Früher oder später finde ich’s raus, Nick.«
»Lieber später.«
Er sagte nichts dazu, zuckte nur mit den Schultern. »Und -sind Sie fertig? Wir treffen uns alle zum Abendessen und zur Besprechung in einem Lokal.«
»Ja, ich bin fertig«, sagte sie und griff nach dem Wollman-tel, den er ihr gekauft hatte. Er hatte zu viel für sie getan, viel zu viel, und er wollte noch mehr tun. Das war schwer auszuhalten. Sie strich mit den Händen über die weiche Wolle. Sie fühlte sich herrlich an. Während sie den Mantel weiter streichelte, sagte sie, über ihre Schulter gewandt: »Ich hatte immer Angst. Ich lag oben in einem von den Stockbetten im ersten Stock des Obdachlosenheims, die schäbige Decke, die sie einem zuteilen, über die Ohren gezogen, und lauschte dem Lärm unten. Manchmal haben sie da unten lautstark gestritten, haben sich angebrüllt, dass die Wände wackelten, und ich hab mich immer unter der Decke verkrochen vor lauter Angst, weil in dieser Welt Gewalt und Verzweiflung anscheinend Hand in Hand gehen. Manchmal haben sie auch oben gestritten und randaliert, bis es einem Sozialarbeiter gelang, für Ruhe zu sorgen.
Es gibt dort Drogensüchtige, Alkoholiker, geistig Verwirrte und Menschen, denen die Umstände übel mitgespielt haben und die deshalb auf der Straße sitzen. Da ist so viel Verzweiflung, aber was noch stärker ist als die Verzweiflung, das ist der Überlebenswille der Leute. Jeder will überleben.«
»Und Sie? Wie passen Sie da rein?«
»Nun, ich gehörte wohl zu denen, die durch widrige Umstände in ihre momentane Lage geraten sind.«
Sie hielt inne und schaute auf ihre linke Hand hinunter, die noch immer über den weichen Wollstoff des Mantels strich. »Die Alkoholiker und die Drogensüchtigen - die sind selbstzerstörerisch. Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid mit ihnen hätte, aber sie unterscheiden sich von den anderen Pennern, weil sie selbst für ihre Misere verantwortlich sind. Und das Komische ist, dass sie alles und jedem die Schuld daran geben, bloß nicht sich selbst. Wirklich seltsam. Ein Sozialarbeiter sagte, wenn sie der Wahrheit einmal ehrlich ins Gesicht schauen und erkennen würden, dass nur sie selbst an allem schuld sind - das würden sie einfach nicht ertragen. Und deshalb schieben sie die Schuld auf alles und jeden. Und deshalb gibt es auch keine Hoffnung für sie.
Was die geistig Behinderten betrifft - die sind am schlimmsten dran. Ich begreife einfach nicht, wie eine zivilisierte Gesellschaft wie unsere es zulässt, dass Menschen auf der Straße landen, die so krank sind, dass sie sich nicht einmal daran erinnern
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