Denkanstöße 2013
fragwürdiges Phänomen, seit der Behaviorismus sie verfemt hatte. Luzide Träume, auch Klarträume genannt, also Träume, in denen der Träumer sich seines Traumzustands bewusst ist? Das mussten Hirngespinste von Okkultisten und Esoterikern sein.
Auch LaBerge lieà die Klarträume mit seinem Kinderspielzeug in der Vergangenheit zurück. Er studierte Mathematik in Arizona, erwies sich als Ãberflieger, wechselte Fach und Ort und wandte sich der chemischen Physik an der Elite-Universität Stanford zu. 1967 dann gab es in Kalifornien den Summer of Love, und diese Hippie-Welle erfasste auch LaBerge. In einem Workshop, gehalten von einem Buddhisten aus Tibet, hörte er von der Fähigkeit der Zen-Meister, einen 24-stündigen Schlaf-wach-Zyklus in vollem Bewusstsein seiner selbst zu durchleben. Ein paar Nächte später fand LaBerge sich im Himalaya wieder, bei der Besteigung des K2. Er stellte fest, dass er nur ein T-Shirt trug, und das in dichtem Schneetreiben. Doch warum fror er nicht? »Plötzlich verstand ich, dass ich träumte«, erzählte er später. »Ich breitete die Arme aus, sprang in die Luft und flog davon.« Er segelte den Hang hinab, statt mühsam abzusteigen, und wachte begeistert auf. Es war LaBerges erster Klartraum seit seiner Kindheit. Und es war nicht der letzte. Nun begann er, systematisch mit Klarträumen zu experimentieren. Er wandte sich daraufhin vom Hochschulbetrieb ab, um sich, wie er es später nannte, der »Suche nach dem Heiligen Gral des Hippietums« zu widmen: der Bewusstseinserweiterung. Zehn Jahre blieb er der Academia fern, offiziell gibt er an, in dieser Auszeit »psychopharmakologische« Studien betrieben zu haben. Dann kehrte er zurück, mit dem Ziel, die Klarträume in Reichweite der Wissenschaft zu holen.
Klarträume geisterten seit Jahrtausenden durch die Literatur, aber vor LaBerge hatte sich niemand mit naturwissenschaftlichen Methoden an sie gewagt. Schon in Aristotelesâ Abhandlung De insomniis (Ãber Träume) aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert lassen sich Andeutungen auf Klarträume herauslesen. Seit einem Jahrtausend entwickelt sich in Tibet das Traumyoga, in dem der Schlafende erkennen lernt, dass er gerade träumt, und den Traum dann lenkt. Für Buddhisten ist es eine Art der Erleuchtung. In der Seele wie im Meer: Je tiefer man taucht, desto schwieriger ist es, bei Bewusstsein zu bleiben. Die Meister des Traumyoga sind seelische Tieftaucher. Die besten unter ihnen schaffen einen vollen Schlafzyklus vom Einschlafen bis zum Aufwachen bei Bewusstsein.
Auch die Naturforscher des aus dem Mittelalter erwachten Europa beschäftigten sich mit Klarträumen. René Descartes (1596â1650) erwähnt sie. Im Jahr 1867 schrieb der Marquis dâHervey de Saint Denis, Franzose, Sinologe und versierter Klarträumer, seine nächtlichen Bewusstseinshöhenflüge in dem Buch Les rêves et les moyens de les diriger (Die Träume, und wie sie zu steuern sind) auf. Der Pionier der Oneirologie wagte es jedoch noch nicht, seinen Namen auf das Buch drucken zu lassen. Daher erschien es anonym. In dem Werk beschrieb er »Träume, in denen sich der Träumer völlig bewusst ist, dass er träumt«. Den Ausdruck »luzider Traum« verwendete auch Hervey de Saint Denis noch nicht. Der niederländische Psychiater Frederik van Eeden prägte ihn, der von 1898 bis 1912 ein Nächtebuch mit 352 Klarträumen geführt und im Jahr darauf einen Aufsatz über das Phänomen veröffentlicht hatte. Dieser Aufsatz erschien wieder 1969 im Sammelband Altered States of Consciousness , herausgegeben vom kalifornischen Psychologieprofessor Charles Tart. So landeten die luziden Träume im Hippie-Kanon.
Dem akademischen Establishment galten Klarträume weiterhin als ganz und gar verruchtes Zeug. Forscher, die akademische Karriere machen wollten, lieÃen lieber die Finger von dem, was sie für drogeninduzierte Wahnvorstellungen hielten. Sie behaupteten, dass die vermeintlichen Klarträumer in Wirklichkeit kurz aufgewacht waren und sich eingebildet hatten, noch zu träumen. Auch William Dement, der Pionier der modernen Schlafforschung und Gründer des allerersten Schlaflabors, war skeptisch, als Stephen LaBerge zu ihm an die Stanford University kam und fragte, ob er Dements Labor für sein Dissertationsprojekt nutzen dürfe. Für LaBerge war es keine Frage, dass es
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