Denkanstöße 2013
pleuré.
Gott redet; ich muà ihm Antwort geben:
das einzâge Gut, das mir bleibt im Leben,
es sind Tränen, die ich einst geweint.
Die fahle, über weite Strecken rezitativische Vertonung, die in ihren 81 Takten viermal die Tonarten-Vorzeichnung ändert und auf einem offenen Akkord (eis â gis â d) verklingt, ist ein ähnlich tiefgründiges Seelenbekenntnis wie die Ãlégie As-Dur für Klavier, die Liszt nach dem Tod seiner alten Freundin Marie Gräfin von Muchanow-Kalergis komponierte. »Der erste Titel davon war: âºSchlummer-Lied im Grabeâ¹: dann schien mir dies quasi affectirt, und ich setzte einfach âºElegieâ¹Â â¦Â« Daneben gab es auch Gelegenheitswerke wie die drei Wartburg-Lieder (nach Viktor von Scheffel), die Liszt zur Hochzeit des Weimarer ErbgroÃherzogs Carl August von Sachsen-Weimar komponierte, oder die Weihnachtsbaum- Sammlung, die zwischen 1874 und 1876 für seine Enkelin Daniela von Bülow entstand.
Die gewichtigsten Werke aber waren drei Kirchenmusiken: Die Légende de Sainte Cécile (nach einem Text von Delphine Gay [Madame Ãmile de Girardin]) für Mezzosopran, Chor (ad libitum) und Orchester (oder Harmonium oder Klavier) war wiederum über einem gregorianischen Choralthema errichtet â der Antiphon »Cantantibus organis Caecilia Domino decantabat« , »die diesem Gesange eine beständigen, gleichsam goldenen Grund« bietet. Die Uraufführung fand am 17. Juni 1875 in Weimar bei einer Trauerfeier für Marie Muchanow-Kalergis statt und muss ein ziemliches Desaster gewesen sein, wie Lina Ramann berichtet hat:
»Die Sänger heiser, die 1. Violine in den Nachwehen eines Diners, und das schlimmste von allem: das Harmonium stimmte weder mit den Menschen- noch mit den Instrumentenstimmen, in welche das Gekreisch der Pfauen des Parks hineintönte. So ward die Todtenfeier fast zur Katzenmusik.«
Immerhin wurde die »Cäcilien-Legende« danach mehrfach aufgeführt, während die Longfellow-Kantate Die Glocken des StraÃburger Münsters (mit dem von Wagner in den Parsifal übernommenen Excelsior! -Beginn) zu Liszts Lebzeiten lediglich zwei oder drei Aufführungen erlebte. So avanciert Liszts Tonsprache in diesen beiden Werken auch war â sie bewegte sich doch immer noch innerhalb der Regeln einer musikalischen Grammatik und Syntax, die in fortschrittlichen Kreisen konsensfähig war und verstanden wurde. In Via crucis dagegen setzte er diese Regeln auÃer Kraft: Es ist eines der radikalsten und (auch noch im heutigen Sinne) modernsten Werke, das Liszt geschrieben hat. Er hatte bereits 1873 mit diesen 14 Stations de la Croix für Soli, Chor und Orgel (oder Klavier, oder Klavier zu vier Händen) begonnen, die sozusagen das opus summum seiner kirchenmusikalischen Reformbestrebungen darstellen â eine quasi ökumenische Verknüpfung von katholischer und protestantischer Tradition: Der Text ist teils lateinisch, teils deutsch, Gregorianik steht neben lutherischen Chorälen, die instrumentale Begleitung ist von einer kompromisslosen Expressivität (etwa die grell-dissonanten, von gespenstischen Pausen zerteilten Akkorde der 11. Station: Jésus est attaché à la Croix , »Jesus wird ans Kreuz geschlagen«), die weit ins 20. Jahrhundert vorausweist. »Nie hat er noch so komponiert«, schrieb Carolyne von Sayn-Wittgenstein: »man möchte glauben, daà er die höchste Spitze der Erde verlassen hat, um im ätherischen Blau zu schwimmen.« Liszt fand sich auch schnell damit ab, dass der Regensburger Verleger Friedrich Pustet die Veröffentlichung der Via crucis ablehnte, obgleich er ihm das (1879 endlich vollendete) Werk quasi kostenlos angeboten hatte; »sie zu veröffentlichen bekümmert mich wenig; denn sie passen nicht zu dem gewöhnlichen Musikgebrauch und Betrieb ⦠Warum damit markten?« Ihre Uraufführung erlebte die Kreuzweg-Kantate erst am Karfreitag des Jahres 1929 in Budapest â ein halbes Jahrhundert nach ihrem Entstehen.
So begann Anfang der 1870er Jahre jene letzte Lebens- und Schaffensphase, die in der Literatur gern als »der späte Liszt« bezeichnet wird â und die doch nichts anderes war als die konsequente Weiterentwicklung der ästhetischen Prinzipien, die er von jeher verfolgt hatte.
Heimo Schwilk
Hermann Hesse â Das Leben des Glasperlenspielers
Die Flucht:
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