Denken aus Leidenschaft: Acht Philosophinnen und ihr Leben
Landschaft hat Beauvoir
den Eindruck, Mittelpunkt zu sein, um den alles kreist. Sie vermeidet den direkten Kontakt, zieht es vor, die Leute von fern
zu betrachten. »Die Existenz des anderen blieb für mich stets eine Gefahr, und ich konnte mich nicht entschließen, ihr freimütig
ins Auge zu sehen.« 12 Der Mitmensch und vor allem sein Blick bedeuten Gefahr. Beauvoir ist der Ansicht, sobald eine zweite Person auf der Bildfläche
erscheine, könne sie sich nicht mehr als Zentrum fühlen, müsse sie die Welt teilen.
Man kann aber nicht so tun, als gäbe es die anderen nicht. Beauvoir muss sich dieser Tatsache stellen, die Herausforderung
annehmen. Als sie sich mit ihrer russischen Schülerin Olga Kosakiewicz näher anfreundet, wird ihr das ganz deutlich bewusst.
Sartre fühlt sich stark hingezogen zu der jungen Frau und schlägt eine Dreierbeziehung vor. Doch sehr schnell geht Beauvoir
so gut wie alles bei Olga auf die Nerven. Sie kann sich die junge Frau aber nicht einfach vom Leib halten und muss feststellen,
dass eben nicht nur sie selbst, sondern auch die übrigen Menschen mit der gleichen individuellen Präsenz existieren und auch
ein Recht dazu haben. Beauvoir und Sartre überfordern Olga mit ihrer Stärke und ihren Ansprüchen. Sie hat sich gerade erst
auf die Suche gemacht nach ihrem eigenen Weg.
Beauvoir beginnt, über eine der Grundfragen des Existenzialismus nachzudenken: Wie ist die Bedeutung der Beziehung zwischen
mir und den anderen zu denken? Für Beauvoir bedeutet der fremde Blick, der sich nicht nur auf die Dinge, sondern auch auf
einen selbst richtet, eine Art Beraubung. Die Stellung des Ich in der Welt kann nicht absolut sein, jeder Mensch ist ein Teil
dieser Welt und steht unter der Beobachtung anderer. Jetzt erst wird so richtig deutlich, mit welchem Anspruch Beauvoir bisher
aufgetreten ist. Die neue Erfahrung verarbeitet sie in einem Roman, den sie 1938 beginnt:
Sie kam und blieb.
Beauvoir legt ihre Gedanken zunächst in Romanen nieder, die so etwas wie in Erzählform gesetzte philosophische Auseinandersetzungen
sind. Das Thema von
Sie kam und blieb
ist ein Dreiecksverhältnis, das große Ähnlichkeit hat mit dem, was Beauvoir gerade selbst erlebt. Im Roman besteht der Ausweg
aus dieser bedrückendenSituation darin, dass die Hauptfigur ihre Widersacherin tötet.
Mit Recht kann man diesen Roman als existenzialistisches Werk betrachten. Sein Grundproblem ist philosophischer Natur: Wie
verändert sich mein Bewusstsein durch das Hinzutreten einer anderen Person? Wie viel von meiner Welt muss ich teilen und wie
kann ich mein Selbst dennoch entwerfen? So lauten die Fragen dieses Romans und Beauvoirs Antwort ist radikal: Nur die Tötung
des anderen bringt mich mir selbst zurück. In der Sprache des Existenzialismus heißt das: Ich habe mich gewählt.
In ihrem ersten Roman zeigt Beauvoir, wie stark das Erlebnis mit Olga sie getroffen hat, wie sehr sie dadurch aufgewühlt worden
ist. Philosophie und Leben lassen sich nicht trennen, sie bedingen sich gegenseitig. Das Bewusstsein ist Existenz, ist Erleben.
Das Denken spielt sich nicht einfach im Kopf ab, sondern steigt aus der Tiefe der spontanen Erfahrung auf und bewirkt eine
Erschütterung der gesamten Person.
Im Jahr 1936 wird Beauvoir nach Paris versetzt, ein Jahr später folgt Sartre, der nach seinem Berlin-Aufenthalt Gymnasiallehrer
für Philosophie in Le Havre war. Beide wohnen im selben Hotel, sie eine Etage höher als er. So leben sie zusammen und doch
unabhängig voneinander. Beauvoir hatte noch nie eine Wohnung und wird noch lange in Hotelzimmern wohnen. Auf keinen Fall möchte
sie einen eigenen Haushalt führen.
Womit die beiden nicht gerechnet haben, ist der Ausbruch des Krieges und die Beteiligung Frankreichs. »Plötzlich ergriff die
Geschichte von mir Besitz, ich zerbarst und fand mich über die ganze Welt verstreut wieder,mit allen Fasern an alle und jeden gebunden. Ideen, Werte, alles wurde umgestürzt; selbst das Glück verlor seine Bedeutung.« 13 Was Beauvoir hier als plötzliche Einsicht schildert, ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines langwierigen Prozesses. Ein gravierender
Einschnitt ist vor allem die Einberufung Sartres an die Front, wenn auch nur zum Wetterdienst. 1940 – 1941 ist er in deutscher Kriegsgefangenschaft. Für Beauvoir bedeutet das eine erneute Konfrontation mit der ständigen Todesbedrohung.
Beauvoirs Philosophieren wird immer begleitet und
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