Denken hilft zwar, nutzt aber nichts
Proseminare hinter sich gebracht und musste sich nun für ein Hauptfach entscheiden. Aber welches sollte er wählen? Ihn faszinierte alles, was mit Architektur zu tun hatte; er besichtigte an den Wochenenden die Gebäude mit den eklektizistischen Fassaden in der Bostoner Umgebung und malte sich schon aus, wie er selbst solch stolze Bauten entwarf. Zugleich interessierte er sich für Informatik, und ihm gefiel besonders die Freiheit und Flexibilität, die dieser Bereich eröffnete. Und so sah er sich bereits in einem gutbezahlten Job bei einer dynamischen, spannenden Firma wie Google. Seine Eltern wollten, dass er Informatik studierte – außerdem, wer geht schon ans MIT, um dann Architekt zu werden? Dabei ist die Architektur-Fakultät dort sehr gut. Joes Liebe zur Architektur war nach wie vor groß.
Während ich mit Joe sprach, rang er frustriert die Hände. Die Seminare in Informatik und Architektur waren nicht miteinander vereinbar. Für das Fach Informatik musste er an Kursen über theoretische Informatik, künstliche Intelligenz, Computertechnik, Schaltkreise und Elektronik, Zeichen und Systeme und abstrakte Syntax teilnehmen, und er brauchte ein Labor für Softwareentwicklung. Für das Hauptfach Architektur musste er Kurse zur »Praxis des Architekturbüros«, »Grundlagen der bildenden Künste«, eine »Einführung in die Bautechnik«, eine »Einführung in die Bauinformatik«, eine »Einführung in Architekturgeschichte und -theorie« belegen und benötigte entsprechende Arbeitsräume.
Wie sollte er die eine oder die andere Laufbahn ausschließen? Hatte er erst einmal das Informatikstudium begonnen,würde es schwer sein, zur Architektur zu wechseln, und umgekehrt sah es nicht besser aus. Wenn er sich jedoch in beiden Fächern einschrieb, würde er wahrscheinlich nach den üblichen vier Jahren am MIT ohne Abschluss dastehen und ein weiteres (von seinen Eltern bezahltes) Jahr absolvieren müssen, um diesen nachzuholen. (Am Ende promovierte er in Informatik, fand aber bei seiner ersten Stelle die ideale Mischung: Er konstruierte Atom-U-Boote für die Marine.)
Dana, eine meiner Studentinnen, hatte ein ähnliches Problem – allerdings ging es bei ihr um zwei Liebhaber. Sollte sie ihre Energie und Leidenschaft einem Menschen widmen, den sie erst kürzlich kennengelernt hatte, um, wie sie hoffte, mit ihm eine dauerhafte Beziehung aufzubauen? Oder sollte sie weiterhin Zeit und Kraft in eine ältere Beziehung stecken, die bereits in ihren letzten Zügen lag? Ohne Zweifel gefiel ihr der neue Freund besser als der frühere – aber sie konnte sich nicht aus der alten Beziehung lösen.
Inzwischen wurde ihr neuer Freund schon nervös. »Wollen Sie wirklich riskieren, den Mann zu verlieren, den Sie lieben?«, fragte ich sie. »Nur weil die entfernte Möglichkeit besteht, irgendwann in der Zukunft zu entdecken, dass Sie Ihren früheren Freund mehr lieben?« Sie schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus. *
Warum können wir uns so schwer entscheiden? Warum empfinden wir den unwiderstehlichen Drang, uns so viele Türen wie möglich offenzuhalten – selbst wenn der Preis dafürhoch ist? Warum können wir uns nicht einfach auf eine Sache festlegen? *
Um diese Fragen zu beantworten, dachten Jiwoong Shin (Professor in Yale) und ich uns eine Versuchsreihe aus, die das Dilemma, in dem sich Joe und Dana befanden, erfasste. Wir verwendeten ein Computerspiel, um, wie wir hofften, einen Teil der Komplexität, die das Leben mit sich bringt, auszublenden und eine direkte Antwort auf die Frage zu erhalten, ob Menschen dazu neigen, sich zu lange möglichst viele Optionen offenzuhalten. Wir nannten es das »Türenspiel«. Als Ort des Geschehens wählten wir einen dunklen, trostlosen Raum – eine Höhle, die selbst Xiang Yus Armee nur widerwillig betreten hätte.
Das Studentenwohnheim auf dem Ost-Campus des MIT ist ein furchterregender Ort, wo Hacker, Hardware-Freaks, komische Käuze und sonstige Außenseiter zu Hause sind – und Sie können mir glauben, man muss schon sehr, sehr unangepasst sein, um am MIT als Außenseiter zu gelten. Dort gibt es einen Saal, in dem man laut Musik machen, wilde Partys veranstalten und sogar nackt auftreten kann. In einem anderen Raum treffen sich alle möglichen Technikstudenten, und überall stehen deren Modelle herum – von Brücken bis hin zu Achterbahnen. (Sollten Sie einmal dorthin kommen, drücken Sie auf den Knopf mit der Aufschrift »emergency pizza«, dann wird Ihnen kurze Zeit
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