Denken hilft zwar, nutzt aber nichts
Nachweise verlangen.
In Kapitel neun haben wir gesehen, dass Erwartungen die Art und Weise beeinflussen, wie wir Ereignisse wahrnehmen und bewerten. Bei der Erforschung des Placeboeffekts in diesem Kapitel werden wir nicht nur feststellen, dass sich Überzeugungen und Erwartungen darauf auswirken, wie wir Dinge wahrnehmen und interpretieren – beispielsweise einen Anblick oder einen Geschmack –, sondern dass unsere Erwartungen uns auch in der Weise beeinflussen, dass sie unser subjektives und sogar objektives Erleben verändern – manchmal sogar tiefgreifend.
Insbesondere möchte ich einen Aspekt von Placebos untersuchen, den wir noch nicht ganz verstehen. Und zwar, welche Rolle der
Preis
bei diesem Phänomen spielt. Hilft ein teuresMedikament besser als ein preisgünstiges? Lässt sich tatsächlich auch
physiologisch
ein Unterschied feststellen? Und wie steht es bei kostspieligen Operationen und Geräten der neuesten Generation, beispielsweise digitalen Herzschrittmachern und High-tech-Stents? Beeinflusst ihr Preis ihre Wirksamkeit? Und wenn ja, bedeutet das, dass die Gesundheitskosten weiter in die Höhe schnellen? Aber der Reihe nach.
Das Wort Placebo kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »ich werde gefallen«. Im 14. Jahrhundert wurde der Begriff für Klageweiber verwendet, die den Toten beim Begräbnis gegen Bezahlung laut beweinten. Im Jahr 1785 tauchte er im
New Medical Dictionary
als Bezeichnung für Grenzbereiche der medizinischen Praxis auf.
Einer der frühesten Berichte über den Placeboeffekt in der medizinischen Literatur datiert aus dem Jahr 1794. Damals machte der italienische Arzt Gerbi eine seltsame Entdeckung: Wenn er einen schmerzenden Zahn mit den Absonderungen einer bestimmten Wurmart einrieb, verging der Schmerz für ein Jahr. Gerbi behandelte Hunderte Patienten mit dem Wurmsekret und hielt ihre Reaktionen schriftlich fest. Von seinen Patienten berichteten 68 Prozent, dass auch bei ihnen die Zahnschmerzen für ein Jahr verschwanden. Sehr viel mehr wissen wir über Gerbi und sein Wurmsekret nicht, aber wir haben doch die ziemlich deutliche Ahnung, dass diese Wurmabsonderungen in Wirklichkeit nichts dazu taten, die Zahnschmerzen zu beseitigen. Der Punkt ist, dass Gerbi von der Wirkung überzeugt war – und die Mehrheit seiner Patienten ebenso.
Natürlich war Gerbis Wurmsekret nicht das einzige Placebo auf dem Markt. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren fast alle Arzneimittel Placebos. Krötenauge, Fledermausflügel, getrockneteFuchslunge, Quecksilber, Mineralwasser, Kokain, Strom: All diese Dinge wurden als Heilmittel für verschiedene Gebrechen propagiert. Als im Jahr 1865 der amerikanische Präsident Lincoln in einem Haus gegenüber dem Ford-Theater im Sterben lag, soll sein Arzt ein wenig »Mumienfarbe« auf die Schusswunden gegeben haben. Ägyptische Mumie, zu Pulver zerstoßen, galt als Heilmittel gegen Epilepsie, Abszesse, Hautausschläge, Knochenbrüche, Lähmungen, Migräne, Geschwüre und viele andere Erkrankungen. Noch 1908 konnte man »echte ägyptische Mumie« aus dem Katalog von E. Merck bestellen – und vermutlich ist das Pulver auch heute noch irgendwo in Gebrauch. 9
Zerstoßene Mumie war aber nicht die makaberste Medizin. In einer Rezeptur aus dem 17. Jahrhundert für ein »Allheilmittel« heißt es: »Man nehme die frische Leiche eines rothaarigen, unverletzten, unbescholtenen 24-jährigen Mannes, nicht länger als einen Tag zuvor zu Tode gekommen, vorzugsweise durch Erhängen, Rädern oder Aufspießen … Einen Tag und eine Nacht dem Licht der Sonne und des Mondes aussetzen, dann in kleinere Stücke oder grobe Streifen schneiden. Mit etwas Pulver von Myrrhe oder Aloe bestreuen, um die Bitterkeit zu nehmen.«
Wir denken vielleicht, bei uns sei das heute alles ganz anders. Doch das ist nicht der Fall. Placebos üben noch immer ihre Zauberwirkung auf uns aus. So war es beispielsweise jahrelang üblich, verwachsenes Narbengewebe aus dem Bauchraum zu entfernen, weil man meinte, damit chronische Unterleibsschmerzen zu beseitigen – bis Forscher den Eingriff in kontrollierten Studien nur simulierten, die Patientinnen aber gleichwohl über eine Linderung ihrer Beschwerden berichteten. 10 Die für andere Anwendungsgebiete zugelassenen Wirkstoffe Encainid, Flecainid und Mexiletin wurden häufigfür Herzrhythmusstörungen verschrieben – bis man später feststellte, dass sie zu Herzstillstand führten. 11 Als Forscher die sechs führenden Antidepressiva prüften,
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