Denkwuerdigkeiten - Aus Meinem Leben
Halbzeit: 0:3, erinnerte, vor Angst und Sorge bei gefährlichen Angriffen der Gastmannschaft aus Ingolstadt auf unser Tor mich jeweils unter den Holzbarrieren hinter diesem Tor versteckt hielt und mir, mit Blick in die Gegenrichtung, berichten ließ, ob denn die Gefahr endlich vorbei sei. Auf daß das Herzklopfen nachlasse.
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Und indessen der Klassensprecher (und, wie sich bald herausstellen sollte, auch schon Bluff-Großmeister) Peter R. im Jahr 1957 bereits einen imposanten Vortrag über die Ungarische Revolution vom Oktober 1956 und speziell über den Ministerpräsidenten Imre Nagy sowie den »tapferen General Pal Maléter« (die Formulierung kam immer wieder vor und hat sich lebenslang eingegraben nicht weniger als der Pythagoras) zu halten vermochte, war bei mir offenbar schon Hopfen und Malz verloren. Obwohl zeitweise Klassenprimus oder -subprimus, las ich mit 16 immer noch ganz gemächlich Pucki und Nesthäkchen. Stalin, Eisenhower, Adenauer und Ollenhauer kannte ich kaum vom Hörensagen. Juckten mich nicht.
Möglicherweise hat die alte Legende von einem damals verweigerten Politik- und Zeitgeschichtsunterricht einige Wahrheit für sich, verweigert von schlechten und zumal unwilligen und mit allerlei zappendusterem biografischen Dreck belasteten Lehrern – es entgeht mir heute gleichwohl nicht, daß ich zu der Zeit vor allem aber schon selber eine ziemlich rückständige Existenz gewesen sein muß. Dem sich der Ernst, die höheren Dinge des Lebens noch keineswegs mitgeteilt hatten, der einigermaßen bräsig und aufgeschmissen in die Jahre hinein aufs Abitur hinluderte; der letztlich noch ein Depperl war.
Meinen damaligen Deutschaufsatz über die wünschenswerte und allseits gewünschte Wiedervereinigung möchte ich um Gotteswillen niemals zu Gesicht kriegen. Man ahnt richtig, daß mir diese Wiedervereingung damals egaler war als jede personelle Verstärkung des Nürnberger Clubs im Mittelfeld. Bzw. der Frankfurter Eintracht, die war dazumal schon längst meine Mannschaft. Um den Club – nicht Bayern, nicht 1860! – hatten sich zu diesen Oberligazeiten schon allzu viele als Anhänger, als Beschwärmer beworben.
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Es muß zwischen 1952 und 1957 gewesen sein, das heißt die ganzen Jahre über, da hörte man einen jeden, ja jeglichen Werktag zwischen 12 und 13 Uhr aus dem Radio (Bayern 1, es gab da aber vielleicht auch bloß diesen einen Kanal) Musik herauskrähen, Musik der erbärmlichsten Qualität, von der minderwertigeren Operette bis zum operettenähnlichen Schlager, Musik, die zumindest in der Erinnerung sich konstituiert aus immerzu dem Gleichen: »Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben«, »Freunde, das Leben ist lebenswert« und »Gern hab ich die Frau’n geküßt«; dargeboten fast immer von Tenören; von freilich völlig ungleichwertigen, die Spanne reichte von Wunderlich und Schock bis zu einem Wesen namens Herbert Ernst Groh, einem Tenor ex negatione, ein Mann, der nur krähen und knödeln und richtig unappetitlich würgen konnte – offenbar vom Intendanten rangelassen und zum Zug gekommen zwecks Nachweis, daß unterm liberalen Theodor Heuss auch das noch geht.
Vielleicht waren es auch viel mehr als die drei Nummern. Jedenfalls waren es lauter »aufbauende Sachen« (Qualtinger, Der Herr Karl), welche jeden Tag an dessen mittäglicher Scheitelzone als durchaus zumutbar, zum Weiterleben geeignet ausweisen sollten. Als bei einiger Belastbarkeit der Menschen trotz allem erträglich, inmitten der unwiderruflichen und unsäglichen Unerträglichkeit der neuen Nachkriegsgesellschaft und ihres damals schon sogenannten Wirtschaftswunders.
Dargeboten von Herbert Ernst Groh und den Seinen, meist im Fortissimo, in mittlerer Tessitur und mit einem ungeheuer anzüglichen Durchhaltezähigkeitssound schon in der Augen-zu-und-durch-Tongebung: »Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben!« – mit einem geradezu wahnsinnig gewordenen Intervall-Hochschwungs-Rallentando beim Wort »ist« – dochdoch, halb selber wahnsinnig geworden, glaubten wir’s ihm ja! Aufs Wort!
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Ein Blick zurück fast ohne Scham, aber doch mit einiger Verwunderung:
Meine erste schwerst »religiöse Phase« hatte ich mit ca. 14 »überwunden«; zum Vorteil des Vordringens und Allmächtigwerdens der Musik, der, nach »Überwindung« der Schlagerphase, klassischen, ernsten. Beides, Musik und Religion, muß sich aber so um oder ab 1955 nochmals seltsam verschwistert haben; insofern ich zu dieser Zeit wohl einige
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