Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
wegzufahren, um die nächste Ecke, damit Verenas Eltern nichts merkten. Dann hat sie gehalten und es uns erzählt. Es war schrecklich!«
Inga fiel ihr jetzt wütend ins Wort, ihre Hände waren g eballt. »Wie konnte er nur so etwas tun! Unser Vater – ich will ihn nie wieder sehen!«
Lene wusste nicht, was sie den Mädchen zum Trost sagen sollte. Aber so stehen lassen wollte sie es für die be iden auch nicht.
»Ihr wisst doch, ich bin Polizistin. Und da bekomme ich vieles mit, was andere vielleicht nicht wissen. Und ich habe es schon öfter erlebt, dass erwachsene Männer sich wie Jungen auf dem Schulhof bene hmen. Es ist dann, als könnten sie es nicht mehr mit Worten sagen, was ihnen so wichtig ist, und dann prügeln sie einfach drauf los, oft auch gerade auf den Menschen, den sie doch eigentlich lieb haben. Das ist dann doppelt traurig. Ihm tut das sicher inzwischen leid, was er eurer Mutter getan hat. Aber das ist natürlich trotzdem etwas ganz, ganz Schlimmes. Das finde ich auch.«
Ingas Gesicht hatte jetzt einen Ausdruck zwischen Tränen und Trotz. »Ich will ihn einfach nicht mehr sehen«, stieß sie hervor, bevor ihre Lippen anfingen zu zittern, und jetzt doch die Tränen die Übe rhand bekamen.
»War euer Papa denn beim Frühstück noch in ganz normaler Stimmung?«
Andrea hatte inzwischen den Arm schützend um Inga gelegt und sagte dann etwas, das sehr traurig klang, so wie sie es sagte. Fast bitter, wenn das nicht ein unpassender Begriff für eine Zwölfjährige gewesen wäre.
»Normal?«, dabei quiekte ihre Stimme etwas vor Aufregung und Verac htung. »Normal? Nein, das war er schon lange nicht mehr. Er kam erst gegen Ende des Frühstücks ins Zimmer und schnauzte Mama gleich an, dass sie doch heute endlich mal zu ihrer Mutter gehen sollte und mit ihr reden. Ich fand das komisch. Sonst wollte er das immer nicht, dass Mama zu Oma ging, aber am Sonntag sollte sie unbedingt. Als Mama dann nichts sagte, hat er sie angebrüllt. Da sind wir beide lieber gleich nach oben, haben unsere Sachen geholt und sind weg, zur Kirche.«
Lene fragte leise: »Habt ihr Angst vor eurem Vater, wenn er so brüllt?«
Jetzt antwortete Inga und sah dabei ihre Schwester an.
»Ja, wir haben dann Angst. Er hat auch schon mal -«, sie brach ab.
»- eine von euch geschlagen?«, vollendete Lene den Satz.
»Ja, Andrea. Weil sie ihre Hausaufgaben nicht gut genug gemacht hatte, hat er gesagt. Aber ich glaube, er war einfach nur wütend auf irgendetwas, und da hat er dann Andrea gehauen.«
Andrea war schamrot angelaufen. »Aber es war nur das eine Mal!« Verteidigte sie ihren Vater schon? Oder fand sie sein Verhalten für sich selbst beschämend? Warum lag das in uns Frauen, dies den-Mann-in Schutz-nehmen?
»Das macht er bestimmt nicht wieder. Er ist doch sicher auch stolz auf seine hübschen Mädchen. Und schämt sich, dass er so unb eherrscht war. Geht ihr jetzt schon mal auf euer Zimmer? Ich muss noch mit eurer Mutter sprechen.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, sah Lene Frau Walther an. Ihre Hämatome hatten die Farbe gewec hselt, grüngelbliche Flecken in einem blassen Gesicht, waren jedoch schon weniger geschwollen. Langsam kamen die Konturen des Gesichts wieder zum Vorschein.
Sie sagte ihr erst einmal, was für hübsche und nette Kinder sie hä tte, und dass sie das Erlebte hoffentlich verarbeiten würden. Und dabei, bei dem Gedanken an den Therapeuten, den sie vielleicht bräuchten, fiel ihr ein, dass sie bisher über etwas Wichtiges noch nicht gesprochen hatten.
»Waren Sie überhaupt selbst in einem Krankenhaus zur Unters uchung am Sonntag oder Montag?«
Durch die anderen dramatischen Ereignisse hatte sie das völlig vergessen zu fragen. Jetzt war das zusätzlich wichtig für eine Anzeige.
Rike Walther nickte zu ihrer Erleichterung.
»Frau Wagner hat darauf bestanden. Ein Krankenhaus kommt in solchen Fä llen meist nur in Notfällen in Frage, da es den Ehemännern oft dann doch gelingt irgendwie Auskunft zu bekommen. Aber sie haben hier einen Arzt, der mit dem Frauenhaus zusammenarbeitet und absolut vertrauenswürdig ist. Der hat mich behandelt – und auch Aufnahmen von den Verletzungen gemacht. Falls - «
Ihr Stichwort. Sehr gut. Lene beugte sich vor und sah Rike Walther direkt in die Augen.
»Falls Sie eine Anzeige machen wollen gegen ihren Mann, nicht wahr? Haben Sie schon daran gedacht?«
Rike Walther schloss die Augen. Dann öffnete sie sie wieder und sagte le ise: »Manchmal schon.
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