Denn bittersüß ist der Schnee - Lene Beckers dritter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
seinen kindlichen Ausdruck. Lene trat zu ihm und nahm seine Hand in ihre.
»Deine Großmutter kann leider nicht kommen, lässt dich aber ganz lieb grüßen. Stell dir vor, sie hat sich das Bein gebrochen und kann noch nicht reisen. Sie liegt selbst im Krankenhaus. Sie war ja so entsetzt, als sie hörte, was dir passiert ist und nimmt dich in Gedanken in den Arm.«
Bei ihren letzten Worten merkte sie, dass Tränen in Svens Augen schossen und fuhr schnell fort.
»Aber sie schickt dir Mr Shiller. Matthew Shiller, der in Kanada lebt und ein alter, sehr guter Freund deiner Großmutter war, und der sie jetzt zum ersten Mal wieder besucht hat, kurz nachdem du zur Klassenfahrt aufgebrochen bist.«
Die Kommissarin beobachtete seine Reaktion sehr genau. Hatte er Shiller schon einmal gesehen? Nichts in seinem Blick ließ darauf schließen.
Er gab Matthew Shiller die Hand. Der räusperte sich.
»Guten Tag, Sven. Ich freue mich, dich kennenzulernen nach a llem, was Melanie mir über dich erzählt hat.« Er zögerte kurz, nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu Sven ans Bett. Lene zog sich unauffällig zu der Sitzgruppe am Fenster zurück, wollte die beiden nicht durch ihre Anwesenheit stören. Von dort aus konnte sie Svens sehr gut unauffällig beobachten.
Shiller fuhr fort: »Ja, also Sven, früher, als ich noch in Deutschland lebte, hieß ich Matthias, Matthias Schiller. Wie gesagt, kannte ich Melanie, deine Großmu tter, damals sehr gut.« Wieder räusperte er sich, bevor er fortfuhr. »Ich glaube, ich muss dir darüber mehr erzählen. Also, Melanie war schon verheiratet, sie war damals erst zweiundzwanzig, und ich gerade nach dem Abi etwa so alt wie du jetzt, das heißt gut ein Jahr älter. Also neunzehn, fast zwanzig. Wir sahen uns und haben uns sofort ineinander verliebt. Nicht nur so ein bisschen, sondern richtig und tief. Es war schrecklich, wegen Andreas, deinem Großvater, der damals auf einer monatelangen Auslandsbaustelle war, und Rike, deiner Tante, die zu der Zeit ein Kleinkind war. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ich hatte einen Vertrag unterschrieben und sollte im Dezember als Waldhüter, Feuerwächter, nach Kanada. Das erschien mir damals, bevor ich deine Großmutter kannte, der Gipfel an Freiheit und Abenteuer zu sein.«
Ein Blick in Svens Gesicht zeigte ihr, dass er dieses Gefühl nac hempfinden konnte. Seine Augenbrauen zogen sich fragend zusammen, warteten offenbar ungeduldig auf die Fortsetzung. »Und?«, fragte er, leicht verunsichert.
»Wir beschlossen, dass ich vorausfahren würde, und Melanie später nac hkommen sollte mit Rike – wenn sie mit Andreas gesprochen hätte. Wir glaubten einfach, alles ließe sich schon irgendwie regeln, und jeder müsste doch einsehen, dass wir uns liebten. Anfang Dezember ging ich also nach Kanada, Andreas kam etwa zu der Zeit nach Hause.« Hier stockte er.
Sven fragte rau: »Was habt ihr dann gemacht, Melanie und - Sie?«
Es war plötzlich still im Krankenzimmer. Das Kontrollgerät für Blutdruck und Puls war das einzige Geräusch, das zu hören war. Matthew Shiller sah Sven prüfend in die Augen.
»Du kannst mich ruhig duzen, Sven. Und du wirst gleich verstehen, w arum das selbstverständlich ist.«
In dem Moment brach ein Sonnenstrahl durch die graue Wolke nschicht und fiel auf Svens Bett. Wie seltsam, gerade jetzt, schoss es Lene durch den Kopf. Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass Melanie im Zimmer war. Den beiden helfen wollte. Der Sonnenstrahl.
»Also, es hilft nichts, du musst die Wahrheit erfahren.«
Shiller sprach jetzt schneller, wie mit Anlauf, voller Angst, er könnte die Hürde nicht oder falsch nehmen.
»Kurz nach meiner Abreise, ziemlich genau an Weihnachten, merkte M elanie, dass sie schwanger war. Das veränderte alles. Sie wusste, dass das Kind nur von mir sein konnte, aber gleichzeitig erkannte sie, dass sie niemals mit zwei Kindern, einem Kleinkind und einem Baby, in den Regenwald nach Kanada konnte – zu einem neunzehnjährigen Feuerwächter. Weißt du, was das heißt, Sven? Völlige Einsamkeit mitten im riesigen Urwald in einer Blockhütte. Ohne Elektrizität, ohne Arzt – den musste man mit dem Hubschrauber anfordern – keine Nachbarn, außer Wölfen und Bären und anderen Tieren. Sie verstand, dass die Fürsorge für das Baby jetzt Vorrang hatte und schrieb mir, dass sie bei Andreas bleiben würde. Sie könne nicht anders, schon wegen Rike. Von dem Baby, unserem Baby, schrieb sie kein Wort, auch in den folgenden vier
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